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Relikte des Sozialismus - Unterwegs in Polens Milchbars

Während des Sozialismus gab es in Polen rund 40 000 Milchbars. Heute existieren davon noch rund 140. Wer eine Reise durch das Land macht, sollte eine besuchen. Dort gibt es nicht nur gutes Essen. Man lernt auch viel über Polen.

Von Kristin Kruthaup, dpa 10.09.2015, 04:00
Essen wie bei Oma: Die Kost in den polnischen Milchbars ist in der Regel deftig. Salatsaucen sind zum Beispiel mit Sahne oder Mayo angemacht. Foto: Agnes Sofie Nowicki
Essen wie bei Oma: Die Kost in den polnischen Milchbars ist in der Regel deftig. Salatsaucen sind zum Beispiel mit Sahne oder Mayo angemacht. Foto: Agnes Sofie Nowicki Agnes Sofie Nowicki

Warschau (dpa/tmn) - Mit Pierogi in Warschau fing es an. Fünf Stück auf einem weißen Teller aus schlechtem Porzellan. Wässrigweiße Teigbrocken, buttrig glänzend, im Innern des Brockens laut Karte: Fleisch. Willkommen in der Milchbar Familijny auf Warschaus Flaniermeile, der Nowy Swiat!

Der Anblick der Pierogi war nicht zum Anbeißen, doch dann wurde es heiß im Mund, es schmeckte gleichzeitig nach Brühe, nach Kartoffeln, Hackfleisch, Pfeffer und Zwiebeln. Es war würzig, aber nicht salzig. Es war mächtig, aber nicht fettig. Es war großartig und lecker. Der zweite Bissen war dann zögerlich, der dritte fast gierig. Schon schob man den Stuhl zurück und holte sich nach.

Die Entdeckung der Bar ist inzwischen vier Jahre her. Seitdem war man in Posen, Stettin, Danzig, Breslau und Krakau. Und immer stand, wenn es irgendwie ging, ein Milchbar-Besuch auf dem Programm. Je öfter man dort aß, desto sicherer wurde das Gefühl: Wer etwas über Polen lernen will, muss in Milchbars gehen.

Es existieren in Polen derzeit noch rund 140 Milchbars, auf Polnisch heißen sie Bar Mleczny. Der Name kommt daher, dass es dort früher ausschließlich fleischlose Produkte zu kaufen gab. Heute bekommen Besucher auch Fleischgerichte. Ihre große Zeit hatten die Bars im Sozialismus. Damals gab es rund 40 000 davon. Jeder sollte sich pro Tag eine warme, nahrhafte Mahlzeit leisten können. Keine aufwendige Einrichtung, aber gutes, bezahlbares Essen. Damals wie heute subventioniert der Staat die Bars, sie sind für jeden zugänglich.

Mit einem modernen Restaurant hat die Familijny nichts zu tun: Auf dem Boden liegen weiße Fliesen, Vasen mit künstlichen Blumen stehen auf Kunststofftischen. Die Wände sind mit Holz vertäfelt, wie es schon seit Jahren aus der Mode ist. Man bestellt und bezahlt an der Kasse. Dann geht man mit dem Kassenbon und einem Tablett zur Essensausgabe. Dort reicht einem eine Frau den Teller mit dem Essen durch ein Rechteck in der Holzvertäfelung.

Dass die Milchbar Mis in der Ulica Kuznicza 48 in Breslau etwas zu bieten hat, ahnt man, sobald man die Tür aufmacht. Jetzt um die Mittagszeit stehen die Menschen Schlange quer durch den Raum. Von den rund 60 Plätzen ist kaum einer frei. Da es so voll ist, setzen sich Fremde zueinander, Studenten neben Rentner, Rentner neben Familien mit Kindern.

Das Wort Barszcz für Borschtsch sieht lustig aus, ist aber nahezu unaussprechlich, man zeigt also beim Bestellen auf das Tablett eines Nachbarn. Tatsächlich kommt eine Schüssel mit klarer, dampfender, dunkelroter Flüssigkeit über den Tresen. Borschtsch ist eine Suppe, die aus roter Beete gemacht wird. Selbst wenn draußen ein Schneesturm losbräche, käme man mit einem Teller warm durch den Tag.

Wenn man Agnes Sofie Nowicki auf die Milchbar Mis in Breslau anspricht, sagt sie: Ja, kenne ich. Da schmeckt es mir auch. Nowicki ist, wenn man das so sagen kann, eine Kennerin der Szene. Sie hat an der Kunsthochschule in Düsseldorf Design studiert und ihre Abschlussarbeit über die polnischen Milchbars geschrieben. Für die Arbeit wurde sie mehrmals ausgezeichnet.

Nowicki kennt die Milchbars von klein auf, sie hat eine polnische Mutter. Wenn die Familie in den Ferien nach Polen fuhr, habe die Mutter nach der Ankunft oft als erstes gesagt: Ich möchte jetzt erst einmal in eine Milchbar gehen! Ihr Vater habe dann nur die Augen verdreht. Doch für seine Frau waren diese einfachen Bars etwas Schönes, ein polnischer Klassiker, der Teil ihrer Geschichte ist.

Nowicki weiß über die Milchbars ein paar sehr interessante Details. Da ist zum Beispiel die Sache, dass es echte und unechte Milchbars gibt. Die echten erkennt man daran, dass die Preise Nachkommastellen haben und die auch noch krumm sind. Das liegt daran, dass der Staat die Hälfte des Wareneinkaufs bei den Milchbars subventioniert. Die Ware wird jeden Tag frisch auf dem Markt eingekauft. Diesen Preis müssen die Betreiber wiederum auf die Kundschaft umlegen. Die unechten Milchbars runden die Preise auf.

Für viele Polen sind die Milchbars keine tollen Orte. Sie sind eher etwas, für das man sich schämt, sagt Nowicki. Sie gelten als Arme-Leute-Lokale, wo jene hingehen, die sich keine besseren Restaurants leisten können. Nowicki sieht sie als spannenden Raum, in dem Menschen, die sonst kaum aufeinander treffen.

In den achtziger und neunziger Jahren sei das Bild der Milchbars in Polen sehr negativ gewesen, erzählt Nowicki. Die Bars gelten als dreckig und das Personal als ruppig. Inzwischen ändert sich das. Es entstehen neue Milchbars, die modern aussehen und optisch nichts mehr gemein haben mit den traditionellen Selbstbedienungslokalen. Doch auch die alten, aus der Zeit gefallenen Milchbars haben bei Jüngeren wieder Zulauf. Vergleichbar mit der deutschen Ostalgie sei dieses Phänomen aber nicht, glaubt Nowicki. Denn es sei keine Sehnsucht nach einem verlorenen System. Im Gegenteil: Die Älteren können inzwischen vergessen, und die Einrichtung Milchbar tut weniger weh. Für die Jüngeren seien sie ein liebenswürdiges Relikt aus der Vergangenheit.

Viele Monate nach der Reise erzählt man einem jungen Mann aus Polen in einer Bar in Berlin von der Reise durch die polnischen Milchbars. Man berichtet von Warschau und Posen, von Breslau, Stettin und Danzig. Da ist das Gefühl, das Land nun ziemlich bereist zu haben. Die beste Milchbar, die sei in Warschau die Mleczny Zabkowski gewesen. Der junge Pole hört zu, nickt und sagt beim Abschied: Für die beste Milchbar Polens, da müsse man nach Lodz.

Zum Schluss eines Milchbar-Besuchs heißt es Teller abräumen: Die Restaurants sind Selbstbedienungslokale. Foto: Agnes Sofie Nowicki
Zum Schluss eines Milchbar-Besuchs heißt es Teller abräumen: Die Restaurants sind Selbstbedienungslokale. Foto: Agnes Sofie Nowicki
Agnes Sofie Nowicki
Etwas abseits von Warschaus Zentrum liegt die Milchbar «Zabkowski»: Dort ist das Essen besonders schmackhaft - und wie in allen Restaurants gibt es die Speisen zu günstigen Preisen. Foto: Doreen Mildner
Etwas abseits von Warschaus Zentrum liegt die Milchbar «Zabkowski»: Dort ist das Essen besonders schmackhaft - und wie in allen Restaurants gibt es die Speisen zu günstigen Preisen. Foto: Doreen Mildner
dpa-tmn
Schmucklos und funktional: Heute existieren noch rund 140 Milchbars in Polen, unter anderem diese in Nowa Huta, einem Vorort von Krakau. foto: Agnes Sofie Nowicki
Schmucklos und funktional: Heute existieren noch rund 140 Milchbars in Polen, unter anderem diese in Nowa Huta, einem Vorort von Krakau. foto: Agnes Sofie Nowicki
Agnes Sofie Nowicki
Von der Suppe bis zum Dessert: Das Angebot der der Milchbar «Familijny» in Warschau ist umfangreich und vielfältig. Es dauert eine Weile, bis die Kunden es studiert haben. Foto: Eva Krafczyk
Von der Suppe bis zum Dessert: Das Angebot der der Milchbar «Familijny» in Warschau ist umfangreich und vielfältig. Es dauert eine Weile, bis die Kunden es studiert haben. Foto: Eva Krafczyk
dpa-tmn
Alles andere als Diätkost: Eine Portion Pierogi in der Milchbar «Zabkowski» in Warschau in Polen. Foto: Doreen Mildner
Alles andere als Diätkost: Eine Portion Pierogi in der Milchbar «Zabkowski» in Warschau in Polen. Foto: Doreen Mildner
dpa-tmn
Was gibt es denn heute? Auf Tafeln an der Wand präsentiert die Milchbar «Mi?» in Breslau ihr ständig wechselndes Speisenangebot. Foto: Kristin Kruthaup
Was gibt es denn heute? Auf Tafeln an der Wand präsentiert die Milchbar «Mi?» in Breslau ihr ständig wechselndes Speisenangebot. Foto: Kristin Kruthaup
dpa-tmn
In Breslau lohnt es sich, in der Nähe der Universität nach diesem Schild mit Teddybär Ausschau zu halten: Die Milchbar «Mi?» ist für ihre gute Küche bekannt. Foto: Kristin Kruthaup
In Breslau lohnt es sich, in der Nähe der Universität nach diesem Schild mit Teddybär Ausschau zu halten: Die Milchbar «Mi?» ist für ihre gute Küche bekannt. Foto: Kristin Kruthaup
dpa-tmn
Pierogi dürfen in keiner Milchbar fehlen: Die Teigtaschen sind mal süß, mal herzhaft gefüllt. Foto: Kristin Kruthaup
Pierogi dürfen in keiner Milchbar fehlen: Die Teigtaschen sind mal süß, mal herzhaft gefüllt. Foto: Kristin Kruthaup
dpa-tmn
Agnes Sofie Nowicki hat ihre Abschlussarbeit an der Kunsthochschule Düsseldorf über die polnischen Milchbars geschrieben. Sie fasziniert, dass in den Lokalen Menschen aufeinandertreffen, die sonst nichts miteinander zu tun haben. Foto: Agnes Sofie Nowicki
Agnes Sofie Nowicki hat ihre Abschlussarbeit an der Kunsthochschule Düsseldorf über die polnischen Milchbars geschrieben. Sie fasziniert, dass in den Lokalen Menschen aufeinandertreffen, die sonst nichts miteinander zu tun haben. Foto: Agnes Sofie Nowicki
Agnes Sofie Nowicki
Statt einer Menükarte auf dem Tisch gibt es den Speisenüberblick in Milchbars in der Regel auf Tafeln an der Wand. Für Touristen gar nicht so leicht: Häufig ist das Angebot dort ausschließlich auf Polnisch zu lesen - wie hier in Krakau. foto: Agnes Sofie Nowicki
Statt einer Menükarte auf dem Tisch gibt es den Speisenüberblick in Milchbars in der Regel auf Tafeln an der Wand. Für Touristen gar nicht so leicht: Häufig ist das Angebot dort ausschließlich auf Polnisch zu lesen - wie hier in Krakau. foto: Agnes Sofie Nowicki
Agnes Sofie Nowicki
Polen hat viele schmucke Städte zu bieten ? und in jeder gibt es eine Milchbar. Dort lernt der Besucher etwas über die sozialistische Vergangenheit und über die Gegenwart des Landes. Foto: dpa-infografik
Polen hat viele schmucke Städte zu bieten ? und in jeder gibt es eine Milchbar. Dort lernt der Besucher etwas über die sozialistische Vergangenheit und über die Gegenwart des Landes. Foto: dpa-infografik
dpa
Von außen unscheinbar, doch zur Mittagszeit rege besucht: Die Milchbar «Mi?» in Breslau. Foto: Kristin Kruthaup
Von außen unscheinbar, doch zur Mittagszeit rege besucht: Die Milchbar «Mi?» in Breslau. Foto: Kristin Kruthaup
dpa-tmn