1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Weihnachtsstress per Mausklick

EIL

Paketboten Weihnachtsstress per Mausklick

In Osterweddingen bei Magdeburg werden zum Jahresende fast 300.000 Pakete pro Tag sortiert - die meisten verschickt der Onlinehandel.

08.12.2015, 23:01

Osterweddingen l Ein trüber Dezemberabend. Vor dem Paketzentrum Osterweddingen fahren rot-gelbe DHL-Laster durch den Regen. Sie warten auf der engen Straße des Gewerbegebiets darauf, durch das Tor gelassen zu werden. In der Vorweihnachtszeit gibt es hier oft Stau. Schon am frühen Nachmittag trudeln die ersten Laster ein, die letzten fahren erst in den frühen Morgenstunden wieder vom Hof.

Heute kommen ungefähr 230.000 Pakete an. Ab Mitte Dezember erreicht die Sortieranlage ihre Maximalkapazität von 290.000 Paketen, fast doppelt so viele wie sonst. „Wir arbeiten gerade Black-Friday und Cyber-Monday ab“, erklärt Mario Stridde, Leiter des Paketzentrums, während er die Tür zur Sortierhalle öffnet. Mit 22.000 Quadratmetern ist die so groß wie 3 Fußballfelder. In den USA sind Black-Friday und Cyber-Monday, Freitag und Montag nach dem Erntedankfest Thanksgiving, der Auftakt zum Weihnachtsgeschäft. Anfang Dezember gibt es dann satte Rabatte im Einzelhandel und in den Onlineshops. Seit einigen Jahren gibt es den Online-Ausverkauf auch in Deutschland. Dann kaufen die Kunden im Norden Sachsen-Anhalts kräftig ein. Hier ansässige Onlinehändler haben viel auszuliefern. Alle diese Sendungen müssen durch die Sortieranlage.

In der kühlen Fabrikhalle steht Pierre Salomon aus Groß Börnecke im Salzlandkreis und legt die ankommenden Pakete eines nach dem anderen aufs Fließband. „Für Nachschub ist gesorgt“, sagt der 33-Jährige und zeigt auf die Paletten, die sein Kollege mit einem Spezialgabelstabler im Minutentakt aus einem LKW hervorholt.

Viele der Großlieferungen kommen von Teleshopping-Kanälen und Onlinehändlern, die Lager in Sachsen-Anhalt betreiben. Die Maschinen brummen leise, nur die Gabelstaplerreifen quietschen über den Fabrikboden. Salomon arbeitet bei einer Zeitarbeitsfirma, heute ist sein erster Tag. Um 14 Uhr hat er angefangen, wie lange der Tag geht, weiß er noch nicht. Die Post holt ungefähr 60 Extrakräfte wie Salomon mit Saisonverträgen für die Feiertagssaison nach Osterweddingen. Sonst arbeiten in dem Paketzentrum etwa 140 Angestellte.

Jetzt sausen Hunderte, gleichförmigen Pakete eines Sportversandhauses von Salomons Arbeitsplatz durch einen überdimensionalen Scanner. Der liest den Barcode, der bei der Abgabe auf jedes Post-Paket geklebt wird. Aus dem Barcode erhält die riesige Sortiermaschine Informationen darüber, wohin im Zentrum das Paket transportiert werden soll. Die Lieferungen entschwinden auf einem schalenbestückten Laufband unter die Decke der Fabrikhalle.

Auf verschlungenen Bahnen fahren sie automatisch zu einer von 296 Rutschen, von denen sie ein Fahrer wieder abholt und zu ihrem Bestimmungsort bringt. Der ganze Vorgang dauert nur 15 Minuten. „Die Maschine ist intelligent und findet den kürzesten Weg“, sagt Mario Stridde, während die Pakete meterhohe Rutschen heruntertaumeln und sich auf langsam größer werdenden Haufen ansammeln. Wenn knapp 100 DHL-Fahrer am Morgen anrücken, sind die Pakete fertig sortiert.

Franziska Zimmermann ist schon um 5 Uhr aufgestanden. Die 24-jährige Paketbotin mit dem schwarzen Pony hat ihre Arbeitsjacke bis oben hin zugezogen und lädt Pakete mit Ziel Schönebeck in ihren DHL-Sprinter. Ungefähr 200 werden es heute. „Ein Kollege ist doch gekommen, obwohl er einen Schnupfen hat“, sagt sie. Deswegen hat das Schönebecker Team heute sechs Fahrer für fünf Stadtbezirke. Franziska Zimmermann nimmt als Springer jedem Kollegen einige Pakete ab und liest sie mit ihrem Handscanner ein. Etwa 20 bis 25 Pakete schafft ein Fahrer pro Stunde, bis zu 10 Stunden dauert eine Tour. Bei mehr Paketen auch mal länger. Überstunden kann sie abbummeln. „Im Sommer geht das.“

Sie hievt eine große Kiste Hundefutter ins Sprinter-Regal. 22 Kilo schätzt sie das Gewicht der Kiste, die man so im Internet bestellen kann. DHL befördert Pakete bis zu einem Gewicht von 31,5 Kilo. „Katzenstreu ist sehr beliebt.“

Etwa 10 Prozent der Sendungen in ihrem Fahrzeug tragen den bei Fahrern unbeliebten Zusatz „Prio“. Das bedeutet Über-Nacht-Lieferung. „Deswegen muss ich auf jeden Fall in jeden Bezirk fahren“, sagt Franziska Zimmermann. Die Prio-Pakete müssen heute ausgeliefert werden. Aber eigentlich, fügt sie hinzu, fährt sie eh erst zurück, wenn alle Pakete ausgeliefert sind. Überstunden hin oder her. Wie viele ihrer Kunden sind Onlinekäufer? „Das sind schon extrem viele.“

Franziska Zimmermanns Mutter arbeitet auch bei der Post. 2010 begann die gebürtige Schönebeckerin die Ausbildung in Osterweddingen. In der Ausbildung war schon mancher Freund neidisch auf ihre gute Bezahlung. Das Einstiegsgehalt ist 11,70 Euro, inzwischen verdient sie etwas mehr 12 Euro pro Stunde. Wenn sie dabeibleibt, steigt ihr Lohn alle zwei Jahre bis auf knapp 15 Euro.

Franziska Zimmermann ist weiter bei der Post AG angestellt. Die Hälfte der Fahrer in Osterweddingen tauschte Anfang des Jahres eine befristete Anstellung bei der Post gegen einen unbefristeten Vertrag bei der neugegründeten Konzerntochter DHL Delivery, zu den niedrigeren Tarifverträgen der Logistikbranche. Die beginnen bei rund 10,50 Euro, steigen aber höchstens auf 11,50 Euro. Ein volles 13. Monatsgehalt bekommen nur die Angestellten der Deutschen Post. Reibereien gibt es unter den Fahrern aber nicht. „Man merkt das im Alltag nicht“, sagt Franziska Zimmermann, während sie noch schnell eine Zigarette raucht. „Ich glaube, heutzutage ist jeder froh, der einen unbefristeten Arbeitsvertrag hat.“ Gestreikt haben manche Fahrer während des langen Poststreiks im Sommer trotzdem. Zimmermann hat nicht mitgemacht, sagt sie. Dann fährt sie los in Richtung Schönebeck.

Erst um neun Uhr ist Franziska Zimmermann in der Gustav-Zenker-Straße. Eigentlich viel zu spät. Sie sortiert nochmal die Pakete des ersten Zulieferungsbezirkes nach Hausnummern. Dann springt sie aus dem Wagen, das erste Paket unter dem Arm. Insgesamt kennt sie 15 Touren im Magdeburger Umland. Besonders merkt sie sich die netten Leute, die vormittags zu Hause sind. Sie drückt auf eine Klingel im Untergeschoss. Treffer. Die alte Dame nimmt das Paket für die Nachbarn gerne an. Die Paketbotin scannt nochmal den Barcode, die Dame unterzeichnet.

Die meisten Onlinekäufer sind gar nicht zu Hause, wenn der Paketbote morgens klingelt. Steht Franziska Zimmermann vor einer unbekannten Tür, helfen ihr manchmal geheime Symbole, die Paketboten hinterlassen. Zimmermann deutet auf ein kleines X, das neben einer Klingel eingeritzt ist. „Das heißt, die nehmen Pakete an“, sagt sie. Kleine Tricks helfen, Zeit zu sparen. Symbole für Verweigerer gibt es auch. Die will sie aber nicht verraten.

Im nächsten Haus joggt Franziska Zimmermann die Treppen hinauf. Diesmal hat sie gleich einen ganzen Stapel Pakete für einen Kunden dabei. „Manche Leute bestellen fast täglich“, sagt sie. Ihren Sprinter fährt sie Stück für Stück vor, parkt mal auf dem Bürgersteig, mal in einer Feuerwehreinfahrt. „Eigentlich ist das nicht erlaubt, aber es geht nicht anders.“ Wenn eine Haustür aufgeht, freut sie sich jedes Mal. Das heißt, es kann schnell weitergehen.

Hinter einer Kurve passt sie ein Mann in seinem Auto ab und fragt nach seinem Päckchen. Das Computerspiel, bei Amazon bestellt, ist ein Weihnachtsgeschenk für den Enkel. Er ist sich sicher, dass das Päckchen heute dabei ist. Er kann es im Internet nachgucken. Das liegt an dem Handscanner, den Franziska Zimmermann benutzt. Klar würde er alles im Internet bestellen, sagt der 75-Jährige, bevor er mit seinem Päckchen davonbraust. „Auf die Weihnachtszeit freut man sich nicht wirklich“, sagt Franziska Zimmermann.

Inzwischen ist es 10 Uhr. Zimmermann ist erst 15 Päckchen losgeworden. 25 sollten es eigentlich sein. Ob ihr Job stressig ist? „Es ist immer dieser Druck da, alles schnell aus dem Auto zu bekommen“, sagt sie. „Ich bin schnell müde, bis halb zehn schaffe ich es abends höchstens, wachzubleiben.“ Auf die Frage, ob sie den Job für immer machen will, zögert sie nur kurz. „Schon,” sagt sie. „Man ist viel draußen, unter Leuten.” In ihrer Freizeit ist Franziska Zimmermann bei der Freiwilligen Feuerwehr. Einen Bürojob kann sie sich nicht vorstellen.

An diesem Tag ist Franziska Zimmermann noch bis 16.30 Uhr unterwegs. Während der Weihnachtszeit fährt sie bis 17.30 Uhr Pakete aus. Ein 10-Stunden-Tag. Am Heiligabend wird sie bis 14 Uhr unterwegs sein. Diesen Arbeitstag mag sie aber. „Alle Leute freuen sich dann, dass ihre Bestellungen noch rechtzeitig ankommen.“ Vorbei ist der Weihnachtstrubel dann aber noch nicht. Bis Mitte Januar läuft der Betrieb in Osterweddingen auf Hochtouren. Dann werden ungewollte Weihnachtsgeschenke zurückgeschickt. Außerdem kaufen dann die ein, die einen Amazon- oder Zalando-Gutschein zu Weihnachten geschenkt bekommen haben. 34 Prozent der Deutschen planen dieses Jahr, einen Gutschein für ein Online-Shopping-Portal zu verschenken. Der Stress für die Paketboten geht nach Weihnachten weiter.