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Rettungshubschrauber Christoph hebt ab

Eine Blutspur, drei beinahe abgetrennte Finger - ein Fall für Rettungshubschrauber Christoph 36. Er startet, wenn es schnell gehen soll.

Von Jennifer Lorbeer 10.05.2016, 01:01

Magdeburg l Ein Weg aus großen Steinplatten führt durch den kleinen Vorgarten. Auf der Wiese vor dem weißen Einfamilienhaus steht ein Rasenmäher. Von der Stelle aus führt eine Spur aus rotbraunen Flecken über den steinernen Weg. „Unfall beim Rasenmäher-reparieren“ lautete der Notruf, den Notfallsanitäter Thomas Scheffler vor wenigen Minuten bekommen hat. Mit zügigem Schritt folgen er und Notarzt Jens Voß einer jungen, aufgeregt wirkenden Frau durch den Garten.

Die Spur aus Blutstropfen auf den Steinplatten endet in einem karierten Handtuch. Es liegt auf dem Boden neben einem Stuhl, zu Füßen eines etwa 70-jährigen Mannes. Er sitzt, hält die mit weißem Verband abgedeckte Hand senkrecht in Richtung Himmel. Wie das passiert sei, fragt Notarzt Jens Voß mit ruhiger Stimme. Bei der Reparatur unter den Rasenmäher gegriffen, mit drei Fingern das Messer erwischt. Der 54-Jährige notiert alles Gehörte auf einem schwarzen Klemmbrett. Noch immer fallen vereinzelt rote Tropfen auf das Handtuch am Boden.

Diese Art der Einsätze häuft sich, wenn es wärmer wird. Ebenso Verbrennungsunfälle, berichtet Sanitäter Scheffler. „Man glaubt gar nicht, was Menschen so alles anstellen können.“ Die Schnittverletzung ist an diesem Tag der dritte Einsatz für den rund zwölf Meter langen Hubschrauber „Christoph 36“. Die Zahl liegt unter dem Durchschnitt von vier bis fünf täglichen Einsätzen in der Frühlingszeit. Insgesamt ist der Helikopter im Jahr 2015 zu 1364 Einsätzen geflogen.

Das Team der Luftrettung wird jedoch von den zuständigen Leitstellen nicht nur zu besonders großen Unfällen gerufen. „Wenn etwas auf der Autobahn passiert, werden wir immer angefordert, aber grundsätzlich fliegen wir, wenn der Notarzt einfach schnell vor Ort sein muss – auch bei einem Schlaganfall“, erklärt der Pilot Marco Cramme von der DRF Luftrettung, einer gemeinnützig tätigen Organisation, welche die Station „Christoph 36“ im zehnten Jahr organisiert.

Der rot-weiße Hubschrauber ist der einzige Primär-Luftrettungshubschrauber Sachsen-Anhalts. Er ist damit vorrangig zur Notfallversorgung vorgesehen. Aus diesem Grund kommt zusätzlich zu jedem Einsatz auch ein Rettungswagen. Dieser transportiert Patienten zum Hubschrauber oder auch gleich zum nächsten Krankenhaus.

Jens Voß untersucht die mit Erde völlig verschmutzte Hand. Über die Mitte der drei äußeren Finger zieht sich ein roter klaffender Riss. Ein Finger werde noch von der Haut gehalten, diagnostiziert der Betroffene. Auch die Knochen seien durch. Stärke der Schmerzen? „Der Mittlere tut etwas weh. Aber ansonsten geht’s.“ Medikamente? Keine, antwortet der Mann.

Voß gibt kurze Anweisungen. Scheffler spritzt Schmerzmittel durch einen Zugang am unverletzten Arm. Der Arzt nimmt das Klemmbrett, notiert die Vorgänge. Zwei Rettungsassistenten vom Rettungswagen verbinden die verletzte, noch immer blutende Hand.

„Wie lange braucht ihr bis Magdeburg?“, fragt Voß die beiden und blickt vom Protokoll auf. „Schätze, 45 Minuten bis eine Stunde“, sagt die junge Rettungsassistentin. „Na das wird wohl zu lange dauern – hat das nächstgelegene Krankenhaus eine Handchirurgie?“, fragt Voß und wendet sich an Scheffler, der das Handy schon in der Hand hält und wählt. „Es ist wichtig, dass man sich gegenseitig vertrauen kann, die Eigenheiten voneinander kennt“, beschreibt der 54-jährige Notarzt die Situation des Teams im Notfalleinsatz. „Das Wichtigste bei allem ist es aber, die Ruhe zu bewahren. Diese Einsätze brauchen ein gewisses Maß an Routine, wegen der begrenzten Ressourcen und des Zeitdruckes.“

An ein bis zwei Tagen im Monat fliegt der Anästhesist vom Olvenstedter Klinikum bei Einsätzen von „Christoph 36“ mit. Die 18 Ärzte des Rettungshubschraubers sind alle Anästhesisten, um Schwerverletzte notfalls vor Ort schon in Narkose zu legen. Schwere Notfälle, die sich eingeprägt haben? Davon gibt es einige, sagt Cramme, aber das Erlebte kommt nicht mit nach Hause. „Die Luftrettung ist immer besonders, weil man das Einsatzgebiet nicht kennt. Da muss ich eine geeignete Stelle zum Landen finden, ohne Menschen oder Tiere zu gefährden, und das möglichst schnell.“ Der 47-Jährige hat 1990 als Transportflieger bei der Bundeswehr angefangen. Seit 2009 fliegt er für die DRF Luftrettung in Magdeburg. „Mein erster Einsatzflug ging damals zu dem Amoklauf nach Winnenden. Das war aber bisher auch der schlimmste“, sagt Cramme. Ein 17-Jähriger hatte damals 15 Mitschüler und Lehrer, später sich selbst getötet. Außerdem seien Einsätze mit Kindern prinzipiell für jeden im Team schwer, so Cramme. Notfallsanitäter Thomas Scheffler nickt und ergänzt: „Aber irgendwie fliegen bei Kindern in den meisten Fällen Schutzengel mit.“ Größeren Respekt und ein wenig Furcht habe der 49-jährige Scheffler aber vor Einsätzen mit Tieren. „Ein Unfall mit einem Tiertransporter oder so.“ Seit 1993 arbeitet er auf der Station. „Ich bin sehr froh, das noch nicht erlebt zu haben.“

Der rot-weiße Hubschrauber steht auf einer großen Wiese. Marco Cramme erzählt mit etwa einem Dutzend Kindern und deren Eltern. „Wir nehmen ihn mit,“ kündigt der vorauseilende Scheffler schon von Weitem an, während er sich nähert. Der Pilot verabschiedet sich von den neugierigen kleinen und großen Zuschauern.

Die beiden Einsatzkräfte öffnen die Türen unter dem Heck am hinteren Teil des Hubschraubers. Notfallsanitäter Scheffler zieht die befestigte Trage aus der Ladefläche. Die beiden Rettungsassistenten stützen den verletzten Rasenmäher-Reparateur auf dem Weg zur Trage. „Wir fliegen jetzt mit dem Hubschrauber“, sagt Scheffler laut zu dem Patienten. Dieser nickt und lächelt: „Dass ich das noch erleben darf!“ Der Mann legt sich auf die Trage. Mit einem kräftigen Ruck schieben Scheffler und Pilot Cramme die Trage in den Innenraum. Notarzt Voß sitzt auf einem Platz dicht neben dem Kopf des Patienten. Er setzt dem Liegenden große Kopfhörer auf. „Zum Schutz vor der Lautstärke während des Fluges“, erklärt Voß.

„Unser Job ist sehr beliebt, viele beneiden uns und möchten gern mitfliegen“, sagt Scheffler. „Aber es gibt zu wenig Plätze.“ Vier Sanitäter und 18 Ärzte besetzen fast täglich wechselnd die Luftrettungsstation. Die DRF Luftrettung stellt drei Piloten. Im nächsten Jahr werde der Stationsbetrieb wieder europaweit ausgeschrieben, Pilot Cramme hofft auf einen erneuten Betrieb durch die DRF Luftrettung: „Ich finde es einfach toll, dass die Magdeburger den ‚Christoph 36‘ als ihren Hubschrauber sehen und wir Teil der Stadt sind.“ Beschwerden wegen des Fluglärms gebe es kaum.

„Kabine ist klar?“, fragt Cramme über Funk aus dem Cockpit. „Kabine okay“, antwortet Voß. Langsam hebt der Hubschrauber vom Boden ab. Das Gras auf der Wiese windet sich unter dem Luftdruck hin und her. Kerosingeruch zieht in die Kabine. Der Mann auf der Trage wendet den Kopf von einem zum anderen Fenster, versucht etwas zu sehen. Die Maschine schwebt über den Bäumen und gibt den Blick über grüne Wälder, gelbe Rapsfelder und das sich schlängelnde Straßennetz frei.

„Irgendwann verliert man den faszinierten Blick für diese kleinen Matchboxautos – das ist schade“, sagt Marco Cramme, während er auf einem Bürostuhl in der Station sitzt und darauf wartet, dass das Telefon für den nächsten Einsatz klingelt. „Aber ich liebe das Fliegen.“ Sanitäter Thomas Scheffler sitzt neben ihm und nickt zustimmend: „Ja, ich liebe meinen Job. Ich möchte nichts anderes mehr machen.“