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30 Jahre Mauerfall Ein anderes Bild vom Osten als erwartet

Wie erleben junge Journalisten den Osten? Tim Neumann aus Nordrhein-Westfalen spricht über seine Erfahrungen.

Von Tim Neumann 10.09.2019, 23:01

Salzwedel l Als meine Hospitanz in Sachsen-Anhalt anstand, hatte ich ein etwas mulmiges Gefühl, auch wenn ich sehr gespannt auf die Zeit dort war. Im Gespräch mit Bekannten schlichen sich häufig ironische Bemerkungen ein – vielen davon hingen Vorurteile an. „Im Osten reden sie alle so komisch“, oder „ab 20 Uhr klappen die da drüben die Bürgersteige ein“, gehörten dazu. Und schon der bloße Name „Volksstimme“ sorgte wegen des harten und altertümlichen Klanges für schmunzelnde Blicke.

Bisher kannte ich die „neuen“ Bundesländer eigentlich nur von Durchfahrten in Richtung Berlin, wenn wir dort Bekannte besuchten. Ansonsten haftete den Regionen im Osten für mich ein gewisses Nichts an. Es gab sie, aber sie waren – vor allem gedanklich – weit entfernt. Und mir kamen auch wenige Gründe in den Sinn, sie zu bereisen. Bis jetzt.

Als ich nach meiner Ankunft am Sonntagabend gegen 22 Uhr ein erstes Mal durch die Straßen Salzwedels schlenderte, fielen mir ein paar gehässige Sprüche über den Osten wieder ein. Es war keine Menschenseele in Sicht, nicht einmal Gestalten, die nach einem Kneipenbesuch beschwipst nach Hause torkelten. Gleichzeitig habe ich aber etwas anderes entdeckt: Hier sah es gar nicht aus wie in den Geschichtsdokus über die DDR, die wir in der Schule regelmäßig konsumierten. Statt staubgrauer Einheitswohnblöcke mit armdicken Rissen im Putz reihte sich hier ein Fachwerkhaus ans andere. Und dank der schmalen Gassen und des kompakten Stadtzentrums ist hier alles problemlos fußläufig erreichbar. In den folgenden Tagen und Wochen habe ich noch viel mehr Vorurteile besser einordnen oder ganz vergessen können. Zum Beispiel sprechen die Menschen dort ganz normal, auch wenn sie „Sonnabend“ statt „Samstag“ sagen. In der Regel konnte man auch nach 20 Uhr noch etwas zu essen bekommen, obwohl sonstige Unterhaltungsmöglichkeiten eher begrenzt vorhanden waren. Außerdem habe ich nicht einmal irgendeine Art von Fremdenhass erlebt, wie sie dem Osten oft nachgesagt wird.

Das größte Problem, und das habe ich schon auf der Hinfahrt über 70 Kilometer Landstraße ab Wolfsburg gespürt, ist die haarsträubende Infrastruktur. Besonders auf den Schulen hat sich die Problematik für mich bestätigt. Weil es kein Autobahnnetz gibt, kommt die Industrie nicht. Weil die Industrie nicht vorhanden ist, fehlen Arbeitsplätze und die Schulabsolventen müssen sich in anderen Städten umsehen. Das sorgt zwar für sehr geringe Lebenshaltungskosten, ist dem Standort aber sonst schlicht schädlich.

Nun aber zurück zu meinen Erfahrungen: Ich kann eigentlich nichts Schlechtes über meine Zeit im Osten sagen. In den sechs Wochen habe ich viele offene, nette Menschen getroffen, die mich dort toll unterstützt haben. Ich durfte sechs Wochen in der Lokalredaktion einer Stadt schreiben, der man nachsagt, dass dort eh nichts passiere. Das Gegenteil war der Fall: Jeden Tag standen abwechslungsreiche Aufgaben auf der Agenda, deren Inhalt häufig war, mit Menschen zu sprechen, die Salzwedel eine Seele geben.