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Abitur Was wurde aus den Einser-Absolventen?

Vor fünf Jahren erzähten Abiturienten mit Einser-Schnitt von ihren Plänen. Die Volksstimme hat einige wiedergefunden.

Von Elisa Sowieja 06.09.2017, 01:01

Magdeburg | Fünf Jahre und gut einen Monat ist es her, da kamen sechs frisch gebackene Einser-Abiturienten aus dem Norden Sachsen-Anhalts zu Besuch in die Landesredaktion der Volksstimme. In einer Runde mit dem Chefredakteur plauderten sie darüber, was sie mit ihrem Spitzen-Schnitt vorhaben. Die meisten von ihnen wollten Medizin oder Zahnmedizin studieren, eine Absolventin liebäugelte mit Sozial- und Kulturanthropologie. Zwei zog es vor dem Studium erstmal ins Ausland – in einem Fall sogar nach Uruguay. Auch über ihre privaten Vorstellungen für die Zukunft erzählten die sechs Sachsen-Anhalter. Nun hat die Volksstimme mit vier der Top-Abiturienten von damals noch einmal gesprochen. Was ist aus ihren einstigen Studienplänen geworden? Wohin hat es die Sachsen-Anhalter überhaupt verschlagen? Und wie, denken sie, hat sich im Laufe der Zeit ihre Persönlichkeit weiterentwickelt? Vier Mittzwanziger erzählen von vier ganz unterschiedlichen Lebenswegen.

Damals am Volksstimme-Konferenztisch war sich Franziska Hildebrandt ziemlich sicher: Sie will in Leipzig Medizin studieren. Drei Monate später saß sie dann auch tatsächlich auf einer Leipziger Hörsaal-Klappbank – allerdings wurde vorn über Psychologie referiert. „Ich hatte für beide Fächer eine Zusage und habe lange überlegt“, erzählt die 23-Jährige mit dem Traum-Schnitt von 1,0. Letztlich, da ist sie sich ganz sicher, wählte sie das Richtige: „Psychologie ist genau mein Ding.“ Inzwischen hat Franziska Hildebrandt längst ihr Bachelor-Zeugnis in der Schublade, gerade feilt sie in Jena an den letzten Sätzen ihrer Master-Arbeit. Und weil‘s so schön ist in der Wissenschaft, legt sie danach mit dem Promovieren los.

Was hat sich in ihrem Leben noch verändert? Wenn ein Fremder sie anschaut: die Haarfarbe (hin zur Wahl-Blondine). Wenn sie selbst auf sich sieht: die Entscheidungsfreude. „Ich weiß jetzt sehr schnell, was ich will und welche Leute mir guttun“, sagt sie. So erklärt sich wohl auch, dass Franziska Hildebrandt noch immer alle drei, vier Wochen in ihre Heimat Oschersleben fährt – zu den Eltern und ein paar Freunden von früher, mit denen sie dann Abende lang im alten Kinderzimmer hockt und über alte Zeiten quatscht. Über Zeiten voller Unbeschwertheit – das ist ihr heute mehr denn je bewusst. Ohne Steuererklärung, ohne Papierkram mit der Versicherung.

Die 23-Jährige setzt übrigens nicht nur bei Freunden auf alte Vertraute: Sie hat sogar immer noch den gleichen Freund wie zu Schulzeiten. Sie und ihr Benjamin, ein Lehramtsstudent, mit dem sie inzwischen auch zusammenwohnt, das hält jetzt schon seit siebeneinhalb Jahren.

Ein Abizeugnis mit einer 1,1 ist wie ein Katapult, das seinen Besitzer auf einen rosigen Karriereweg schießt. Freie Richtungswahl, vorbei an Wartesemestern. Das kann einen allerdings auch lähmen. Dann, wenn man in der Ferne so viel Spannendes sieht, dass man nicht weiß, in welche Richtung es gehen soll. Carlo Sperfeld kennt das Gefühl gut. Deshalb ging er nach dem Abi erstmal für drei Monate nach Griechenland und Ägypten, als Kinderanimateur.

Nach zwölf Jahren Schule mal rauskommen, das war eine tolle Erfahrung, sagt der damalige Stendaler. Die berufliche Erleuchtung allerdings blieb aus. Im Gegenteil. Carlo Sperfeld interessierte sich für immer mehr Dinge. Kultur, Technik, Medien, Philosophie. Seine Lösung: Etwas studieren, das viel abdeckt. Europäische Medienwissenschaft. Doch er war schnell ernüchtert, viele Themen fand er irrelevant. Aus Mangel an Alternativ-Plänen blieb er trotzdem dabei – ließ sich aber Zeit, um nebenbei in einer Medienwerkstatt zu arbeiten. Nach acht Semestern ist der 23-Jährige nun auf der Zielgeraden zum Bachelor. In welchen Beruf er mal gehen will, weiß er immer noch nicht.

Für ihn ist das aber okay, sagt er. „In den vergangenen fünf Jahren stand die professionelle Entwicklung für mich gar nicht im Vordergrund. Es war eher eine Selbstfindungsreise.“ Ein wichtiges Fundstück auf dieser Reise ist ein Trüppchen von Leuten, die er beim Musicalverein kennengelernt hat. Freunde fürs Leben nennt er sie. Solche, mit denen er seinen Horizont erweitert, die ihn ermutigen, sich Neues zu trauen.

Warum er sich die Berufsentscheidung so schwermacht, weiß Carlo Sperfeld genau: Es ist sein Anspruch. „Ich bin immer auf der Suche nach perfekten Dingen. Vielleicht muss ich ja lernen, dass nicht alles perfekt sein muss und man trotzdem glücklich werden kann.“ Das Bett des 23-Jährigen steht übrigens in Berlin – dabei hatte er 2012 noch überlegt, nach seiner Animateurszeit wieder in die Altmark zu ziehen. Die große Stadt tut ihm gut, erklärt er: „All die verschiedenen Lebensentwürfe dort sind sehr inspirierend.“ Zumindest im Moment. „Ich kann mir schon vorstellen, dass ich irgendwann zurückgehe.“ Das wird aber wohl noch dauern. Jetzt kommt erstmal der Studienabschluss. Und danach? Gleiche Strategie wie nach dem Abi: „Erstmal auf Reisen gehen.“

Vor ein paar Wochen hat sich Stefanie Fulde eine Stemmmaschine geschnappt und im Keller alten Betonboden zerklopft. Eine eher ungewöhnliche Beschäftigung für zierliche Blondinen. Sie fand‘s herrlich. Endlich mal den Kopf ausschalten. Die Barleberin hat gerade einen Fünf-Jahres-Denkmarathon hinter sich gebracht. Mit einem Semester unter der Regelstudienzeit hat sie ihr Studium in Zahnmedizin durchgezogen. „Der Stress war der Hammer“, erzählt sie. Zu all der Lernerei kam ein zweiter Stressfaktor: Sie fuhr jedes Wochenende von Leipzig nach Hause. „Ich brauchte das für meinen Kopf.“

Der Hauptgrund dafür heißt Michi. Ihn lernte sie ausgerechnet kurz vor dem Studium kennen – das Einzige, was anders lief, als sie es sich vor fünf Jahren im Volksstimme-Gespräch ausmalte. Mit ihm baut sie jetzt auch in Ebendorf das Haus um, in dem sie neulich dem Beton zuleibe rückte. Dabei ist die 25-Jährige an der Uni noch nicht ganz fertig: Ihr Staatsexamen steht noch aus. Theoretisch hätte sie gleich im März starten können. Aber sie nimmt sich lieber erstmal eine Auszeit.

„In den vergangenen Jahren war ich wie im Rausch. Ich brauche erst mal Abstand, um mich selbst wieder kennenzulernen.“ Denn das Studium, erzählt sie, hat sie zwar disziplinierter und verantwortungsvoller gemacht. „Man verliert aber auch seine Lockerheit.“ Ein halbes Jahr gönnt sich Stefanie Fulde nun, nebenbei jobbt sie für einen Cateringdienst.

Dass sie nach ihrem Staatsexemen zurück nach Sachsen-Anhalt geht, stand für sie nie infrage. „Hier ist meine vertraute Umgebung mit meiner Familie und echten Freunden.“ Hier will sie auch ihre eigene Familie gründen – allerdings erst in ein paar Jahren. Auch an ihrer Studienwahl, sagt Stefanie Fulde, habe sie nie gezweifelt: „Die Arbeit erfüllt mich, weil sie mich an meine Grenzen bringt.“ Und wenn sie irgendwann sämtliche Behandlungsarten im Schlaf drauf hat? „Schon möglich, dass es langweilig wird. Aber dann mache ich einfach was anderes.“ Vielleicht würde sie sogar kellnern gehen: „Hauptsache, es macht mich glücklich.“

Markus Eckert hat mit seinen 23 Jahren schon zehn Babys auf die Welt geholt. Mexiko macht‘s möglich. Dort dürfen angehende Gynäkologen bereits mitten im Studium auf der Geburtsstation mitmischen. Er will zwar eigentlich Chirurg werden. „Aber solch eine Chance hätte ich in Deutschland nicht gehabt“, erklärt er. Außerdem findet er es gut, als Arzt zu wissen, wie man hilft, wenn im Bus mal jemand eine Sturzgeburt hat.

Zwei Semester hat der einstige Wernigeröder gerade in Mexiko verbracht. Damit ist er Wiederholungstäter in Sachen Lateinamerika. Als er vor fünf Jahren bei der Volksstimme saß, präsentierte er den wohl exotischsten Plan aller Abiturienten am Tisch: Er wollte für ein Freiwilligenjahr nach Uruguay.

Dort arbeitete er dann mit Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien: betreute sie bei den Hausaufgaben, übte mit ihnen Schwimmen. „Das Jahr war sehr bereichernd für mich“, erzählt Markus Eckert. „Ich habe gelernt, dass man auch mit wenig finanziellen Mitteln ein schönes Leben haben kann, und dass wir als Menschen der Ersten Welt Verantwortung haben, humanitäre Hilfe zu leisten.“ Die Zeit dort habe ihm auch geholfen, selbständiger zu werden und für andere Verantwortung zu übernehmen. Sogar gelassener sei er geworden – gegen die Bürokratie in Uruguay ist die deutsche nämlich ein Serviceparadies.

Aber wieso musste es ein paar Jahre später nochmal nach Lateinamerika gehen? Markus Eckert lacht. Das habe seine Familie ihn auch gefragt. „Ich mag die wunderschöne Natur und den Schlag Mensch. Und um in die Kultur einzutauchen, reicht ein Urlaub nicht aus.“

Zwischen den beiden Auslandsjahren hat er ganz konventionell Medizin in Leipzig studiert. Jetzt fehlen noch drei Semester, bis er ins praktische Jahr starten kann. Dass er als fertiger Chirurg irgendwann noch ein drittes Mal in die Region geht, ist nicht ausgeschlossen: „Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, für Ärzte ohne Grenzen einige Wochen lang Katastrophenhilfe zu leisten.“ Und die Familienpläne? Die liegen bei so viel Entdeckerdrang erstmal auf Eis.