Demenz Altenheim im Harz weckt Erinnerungen
Ein Pflegeheim in Quedlinburg zeigt, wie der Erinnerung demenz-erkrankter Bewohner auf die Sprünge geholfen werden kann.
Quedlinburg l Das Schicksal Demenz ereilte Silvia Schneider vor zwei Jahren. Vielmehr traf es ihre Mutter Marta. Gnadenlos. Mit 78. „Als der Arzt die Diagnose Alzheimer stellte, zog es uns den Boden unter den Füßen weg“, erzählt die Lehrerin bei einem Besuch im Pflegeheim „DaHeimSein“ in Quedlinburg. Bis dahin hatten beide Frauen die Vergesslichkeit als „in dem Alter doch ganz normal“ abgetan und den Gedanken an eine Demenzerkrankung verdrängt. Frei nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
Doch der geistige Verfall, vor dem Mutter und Tochter von da an gleichermaßen Angst hatten, ging bei der alten Dame rasend schnell voran. Ebenso wie der innere Rückzug und das Entfernen von sich selbst. Der „Honig im Kopf“, von dem die gleichnamige Tragikomödie von Til Schweiger auf sehr berührende aber auch nachdenklich stimmende Art und Weise erzählt, wurde immer mehr. Immer öfter verlegte die einst so korrekte Verkaufsstellenleiterin, die weiter auf eine Selbstbestimmung in den eigenen vier Wänden pochte, ihr Portemonnaie oder den Haustürschlüssel. X-mal fragte sie nach dem Tag. Nachbarn, Enkel, alte Gewohnheiten, Alltagsgegenstände – alles wurde ihr fremd.
Die so geliebten Spaziergänge wurden jedes Mal kürzer. Keine Kraft, keine Lust, jammerte die Frau. Sie wurde ängstlich. Unsicher. Am liebsten schaute sie sich die alten Alben mit den Familienfotos an. „Da lebte Mama jedes mal auf, erinnerte sich plötzlich an viele Dinge von früher und strahlte“, berichtet die Tochter traurig von den „hellen Momenten“.
Doch die wurden immer seltener. Dass etwas passieren musste, wurde Silvia Schneider aber erst so richtig klar, als die Mutter eines Tages nach ihr schlug, weinte und schrie: Wer sind Sie? Wo ist Silvi? Meine Silvi soll kommen. „Dieser Moment, vor dem ich immer Angst hatte, war plötzlich da. Ich war verzweifelt, fühlte mich so hilflos“, spricht die Tochter darüber, was für viele noch immer ein Tabu-Thema ist: Eine Mutter erkennt ihr eigenes Kind nicht mehr. Der Horror. „Das machte mich zutiefst traurig.“ Aber auch wütend. Weil sie sich eingestehen musste, dass die Demenz weit fortgeschritten war und sie es alleine nicht mehr schaffte, sich um die Mutter zu kümmern. „Aber in ihrem Zustand wurde sie doch zu einer Gefahr für sich und andere ...“
Bei aller Liebe, den Zweifeln und dem schlechten Gewissen: Wo findet man professionelle Hilfe? Und, vor allem, wo das richtige Heim? Eines, in dem Bedingungen geschaffen werden, die es erlauben, den Angehörigen mit der erforderlichen Liebe und Geduld zu begegnen, ihn zu pflegen. Ein Heim, in dem ein Mensch trotz Demenz, so gut es geht, am Leben teilhaben kann?
Judith Stolle, die neben der stationären Pflegeeinrichtung in Quedlinburg auch das PROKLIN-Heim in Blankenburg leitet, weiß um das Schicksal von inzwischen über 100 000 Demenzerkrankten in Sachsen-Anhalt. Und die examinierte Krankenpflegerin kennt auch die Fragen und Bedenken, die Ängste und Sorgen der Betroffenen und Angehörigen nur zu gut: „Es ist oftmals ein sehr schmerzhafter Prozess, die Pflege von Angehörigen, gerade wenn sie dement sind, in fremde Hände zu geben.“
Dabei sei es nur allzu ratsam, Hilfe anzunehmen, wenn die Pflegebedürftigkeit eines älteren Menschen zunimmt und die Betreuung daheim nicht mehr zu stemmen ist. „Für solche Fälle sind wir als geschulte Fachkräfte doch da. Das ist unser Job und unsere Profession“, versucht die 34-jährige Demenzfachkraft Ängste zu nehmen.
Den Anspruch, „keine Aufbewahrungsstelle oder Abschiebeeinrichtung“ sein zu wollen, werden Judith Stolle und ihr Team (17 Pflegekräfte plus zwei Ergo- und Physiotherapeuten und eine Hausdame) durchaus gerecht, wie ein Rundgang durch das Heim und die weitläufige Parkanlage inklusive „Rathaus“, Scheinbushaltestelle, Kaninchenstall und „Friedhof“ für die Haustiere zeigt. In dem Zuhause der 36 Heimbewohner, von denen über ein Drittel dement ist, steckt sehr viel Liebe, Verständnis und Mitgefühl für deren besondere Situation und Bedürfnisse. Für Judith Stolle ist das nichts Besonderes, sondern eine Selbstverständlichkeit: „Unser Leitspruch bei allem ist: Pflege leben – Leben pflegen.“
Und dieses Leben spielte sich für die meisten Bewohner nun mal zum großen Teil in der DDR ab. Die Männer und Frauen arbeiteten oft im Handwerk oder der Landwirtschaft, die Frauen wuppten nebenbei noch Familie und Haushalt. Und deshalb ist es auch so wichtig, wie Ergotherapeut Bernd Jenecke betont, die Biografien der Bewohner zu kennen. „Jeder, der in der Familie oder im Beruf mit Demenzkranken zu tun hat, weiß um die Kostbarkeit einer jeden positiven Gefühlsregung, welche ihnen noch entlockt werden kann“, erklärt der 55-Jährige. Also müssen die Heimbewohner da abgeholt werden, womit sie noch am meisten anfangen können und wozu sie eine emotionale Bindung haben.
Und auf einmal macht Sinn, was im ersten Moment komisch, befremdlich, ja vielleicht sogar grotesk wirkt: Der auf dem Boden festgeklebte Groschen, nachdem sich die Bewohner bücken. Der extra eingerichtete „DDR-Konsum“. Die vielen alten Schwarz-Weiß-Fotos an den Wänden, die immer wieder angesehen werden. Die alte Optima-Schreibmaschine, halbierte DDR-Möbel auf dem Flur. Die Singer-Nähmaschine und Strümpfe mit Löchern neben dem Nähkorb. Eine Musik-Ecke mit den Schellackplatte und dem Schokoladenmädchen an der Wand. Ja selbst Hauskatze Susi – all das kann Erinnerungen wecken und zum „Vergiss dein nicht“ animieren.
In diese Richtung Teilhabe am Heim-Alltag zielt auch, dass die Heimbewohner per Aushang im Flur oder draußen an der Litfaßsäule zum Gang ins 30 Meter weit entfernte „Rathaus“ motiviert werden. Hier finden viele Veranstaltungen statt, zudem locken Werkstatt und Bibliothek zur Teilhabe ein.
Das besondere Konzept, individuell auf die Demenz-Erkrankung der Bewohner einzugehen, sie an die Hand zu nehmen und in ihr altes Leben zurückzuführen, hat letztlich auch Silvia Schneider überzeugt. Die 51-Jährige hat das Gefühl, dass der Name des Heimes (DaHeimSein) Programm ist: „Wenn ich zum Besuch komme, und sehe, wie sie mit der Katze im Schoß selig am Nähtisch sitzt und einen alten Strickpollover aufribbelt, weiß ich, es geht ihr gut.“ Zwar kennt sie ihre Tochter nicht mehr, aber sie strahlt sie jedes Mal an: „Das würde sie sicher nicht, wenn sie sich nicht wohlfühlen würde – soweit kenne ich meine Mama.“