Ansichten eines Wählers Eine Entgegnung auf Gabor Steingarts Empfehlung, nicht wählen zu gehen. Von Alois Kösters
Der prominente Ex-Spiegel-Journalist Gabor Steingart, "Handelsblatt"-Herausgeber und Verfasser des Buches "Machtfrage. Ansichten eines Nichtwählers", hat in Günther Jauchs Talkshow Ende August dazu aufgerufen, nicht wählen zu gehen. Volksstimme-Chefredakteur Alois Kösters widerspricht seinen Thesen.
1. Nichtwählen ist Enthaltung
Nichtwählen ist nicht Enthaltung, Herr Steingart. Politiker haben sich gegen den Kurs der eigenen Fraktion der Stimme enthalten. Mutig! Mutige Menschen in totalitären Staaten sind zur Wahl gegangen und haben Stimmzettel ungültig gemacht. Der Nichtwähler sendet überhaupt kein Signal aus. Umfragen bestätigen: Den hochpolitischen Nichtwähler gibt es kaum. Die meisten verweigern sich aus einem diffusen Gefühl der Verdrossenheit oder aus Gleichgültigkeit, die befördert wird, wenn gebildete, hochpolitische Menschen wie Sie sie bestätigen. Denn die häufigsten Nichtwähler sind keine gebildeten Polit-Spieler wie Sie, sondern Menschen am Rande der Gesellschaft, die nicht mehr glauben können, dass sie immer eine Wahl haben. Und ganz sicher am 22. September.
2. Nichtwählen erzeugt Nachdenklichkeit über die Spielregeln
Nach 1945 haben sehr nachdenkliche Männer und Frauen komplizierte Spielregeln der Demokratie ersonnen, um zu verhindern, dass sie einfach abgewählt werden kann. Aber - zugegeben - die vielräderige Mechanik ist nicht die schnellste und sie wird nicht von einfachen Mehrheiten direkt angetrieben. Ungeduldige Menschen wie Sie geraten wohl deshalb ins Schwärmen über die "herrliche direkte Demokratie" in den USA. Nachdenkliche Menschen schütteln eher den Kopf über hysterische Wahlschlachten und irrationale Debatten.
Gerade wir, Herr Steingart, sollten darüber nachdenken, wie wir den Menschen unsere komplizierte Mechanik besser erklären, damit sie Sinn und Schönheit all der Stellschrauben, Kupplungen, Rückkopplungen und Sicherheitseinrichtungen ihres faszinierenden Apparates verstehen.
Und damit die Ungeduld abnimmt, mit denen sie den Frauen und Männern begegnen, die mit dieser Apparatur in mühevoller Kleinarbeit Meinungen, Mehrheiten und Entscheidungen produzieren.
3. Unser Parteienstaat ist erstarrt.
Während Sie, Herr Steingart, das Buch "Deutschland - der Abstieg eines Superstars" schrieben, stemmte sich eine Partei um den Preis ihrer eigenen Identität und Macht mit einem gewaltigen Reformprogramm dagegen. Vielleicht hat das die SPD sogar überfordert. Die Auseinandersetzung über die Agenda 2010 hat dort nie aufgehört. Das nennen Sie erstarrt? Die CDU hat immer wieder neue politische Themen aufgenommen und sich mit der Gesellschaft verändert. Nicht ohne heftige Diskussionen in der Partei. Erstarrt? Die Grünen haben sich entwickelt, viel zur politischen Kultur beigetragen und wichtige Politiker hervorgebracht. Die PDS hat in den 90ern viele Menschen politisch integriert und sich in einem schwierigen Prozess zur Linken transformiert. Auch hier Diskussionen, extreme Meinungen neben Regierungsfähigkeit in Ländern und Kommunen. Und eben erst haben sich mit Piraten und AfD zwei neue Parteien gegründet, die respektable Beiträge im demokratischen Ringen um den richtigen Weg liefern.
Ich sehe alte Parteien, die auf Neues reagieren, und neue Parteien, die alte beweglich halten. Keine Erstarrung. Und wenn Sie von der Überwindung des Parteienstaates sprechen, erinnert mich das an eine Zeit, als gebildete Kleinbürger mit Hang zum Absoluten wie Sie die "Schwatzbude" Parlament abschaffen wollten.
4. Die Parteien gleichen sich
Man muss nur hoch genug fliegen, um keine Unterschiede zu sehen. Sie müssen nur eine halbe Stunde mit dem Wahl-O-Mat (www.wahl-o-mat.de) spielen, um zu sehen, wo sich Parteien unterscheiden. Vielleicht verwechseln Sie da etwas. Die Diskurs-ebenen der Parteien sind in der Tat ähnlicher geworden. Die Parteien, die heute eine Rolle spielen, diskutieren zunehmend rational. Sie entledigen sich der Ideologeme, die nur aus Tradition erhalten oder aus Unverstand erdacht wurden. Und das ist gut so.
5. Politiker vertreten nicht das Volk
Sie haben eine kindliche Vorstellung von Demokratie, die nur jungen Piraten gut steht. Nein, Gabor Steingart wird von keiner Partei vertreten und - schlimmer - ich auch nicht. Jeder Bundestagsabgeordnete steht für 100 000 Menschen. Das muss für die, die nicht gern teilen, ernüchternd wirken. Für andere fördert es das Verständnis dafür, dass Politik so selten die beste Lösung hervorbringt - nämlich die eigene.
Ungefähr die Hälfte unserer Bundestagsabgeordneten werden direkt gewählt. Jeder kann eine Person wählen, die ihn irgendwie überzeugt. Und ich rate jedem, dies in jedem Fall zu tun. Keine Stimme geht verloren. Jede Stimme hilft einem Politiker, seine Stellung in der Partei zu verbessern oder motiviert zu bleiben. Und wenn Sie, Herr Steingart, bestimmen wollen, wer auf einer Parteiliste kandidiert, engagieren Sie sich als Mitglied einer Partei.
6. Politiker sind machthungrig
Sicher gehört ein wenig Machthunger und Eitelkeit dazu, um Minister, Vorstandsvorsitzender oder Herausgeber des Handelsblattes zu werden. Die meisten Bundes- oder Landespolitiker, die ich kenne, haben weder viel Macht noch Machthunger. Was sie vielfach auszeichnet, sind Fähigkeiten, die Sie und ich nicht haben: Politiker müssen sich mit einem winzigen Anteil an einer Entscheidung bescheiden, dicke Bretter bohren, unterschiedlichen Interessen aufgeschlossen gegenüberstehen und sehr vielen Menschen, die ihnen eigentlich fremd sind, das Gefühl geben, verstanden zu werden. Und sie müssen es ertragen, für all dies gescholten zu werden.
7. Nichtwählen ist politisch
Nur Wählen ist eine politische Reaktion, Herr Steingart! Wählen Sie eine Person, weil Sie Ihnen politisch nahesteht oder einfach nur sympathisch ist! Wählen Sie eine Partei, nur weil sie einige vernünftige Ansichten vertritt! Wählen Sie auf jeden Fall! Denn unserer komplizierten Demokratiemechanik geht es genauso wie manchem Oldtimer. Sie wird nur mit Verständnis, Zuwendung und Engagement ihrer Nutzer lebendig gehalten. Seit 64 Jahren läuft der Apparat und hat uns weit gebracht.
Und Sie, lieber Herr Steingart, verkünden und ersehnen nur das Ende dieser Parteiendemokratie. Sie sagen uns nicht, was danach kommen soll.