1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Kay Senius: "Wir brauchen Zuwanderung"

EIL

Arbeitslosenquote Kay Senius: "Wir brauchen Zuwanderung"

Der Chef der Landesarbeitsagentur wagt einen Ausblick auf 2018 und begründet, warum an mehr Zuwanderung kein Weg vorbeiführt.

02.01.2018, 23:01

Volksstimme: Herr Senius, die Arbeitslosenquote in Sachsen-Anhalt lag im November bei 7,7 Prozent – der niedrigste Wert seit Jahren. Ist noch Luft für weitere Verbesserungen?
Kay Senius: Ich gehe davon aus, dass die Zahl der Arbeitslosen und auch die Arbeitslosenquote in Sachsen-Anhalt im kommenden Jahr weiter sinken werden. Das zeigen die Prognosen unseres Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung. Demnach könnte die Zahl der Arbeitslosen über das Jahr gesehen in Sachsen-Anhalt um 4,2 Prozent zurückgehen und damit stärker als im Bundesschnitt von 2,4 Prozent.

Mit welchem Wert rechnen Sie im nächsten Jahr um diese Zeit?
Ein genauer Wert ist schwer zu prognostizieren, weil viele Faktoren eine Rolle spielen: Etwa die Bevölkerungsentwicklung, die allgemeine Konjunktur oder die Geschwindigkeit der Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt. Setzt sich die aktuelle Entwicklung fort – und da bin ich optimistisch – kann die Arbeitslosenquote im Herbst kommenden Jahres durchaus auch mal bei 7 Prozent liegen.

Was sind die Gründe für die guten Zahlen – die boomende Wirtschaft oder doch eher die alternde Gesellschaft mit immer weniger Arbeitskräften?
Beide Gründe lassen die Arbeitslosigkeit sinken, wobei die Demografie der stärkste Treiber ist. Wir haben zwar auch in Sachsen-Anhalt einen kontinuierlichen Beschäftigungsaufwuchs, allerdings liegt der unter dem bundesdeutschen und ostdeutschen Durchschnitt. Trotzdem geht die Arbeitslosigkeit im Vergleich zu anderen Bundesländern überdurchschnittlich zurück. Gerade mit Blick auf die demografischen Daten wird klar, dass es vor allem die Altersabgänge sind, die den Arbeitslosenbestand abschmelzen lassen.

Trotz niedriger Quote gab es zuletzt 40.000 Langzeitarbeitslose. Muss man das akzeptieren?
Fakt ist, dass der Anteil der Arbeitslosen steigt, die mehrfache Integrationshemmnisse haben. Das wirkt sich auf die Langzeitarbeitslosigkeit aus. Fast 40 Prozent der Arbeitslosen in Sachsen-Anhalt sind mehr als ein Jahr ohne Job. Über 20 Prozent sind sogar über zwei Jahre arbeitslos. Alter, fehlende Qualifikation, gesundheitliche Einschränkungen, geringe Mobilität – das sind die Chancenkiller, die einer Integration in Arbeit entgegenstehen. Bei einigen Betroffenen gelingt es uns, sie mit intensiver Betreuung längerfristig wieder fit zu machen. Wir betreuen aber auch Langzeitarbeitslose, die nie wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen werden. Wenn diese Menschen von Teilhabe ausgeschlossen bleiben, halte ich das für falsch. Deshalb plädiere ich seit Jahren für einen sozialen Arbeitsmarkt, der Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen schafft, die keine Chance auf einen regulären Job haben.

Die Landesregierung hat jetzt ein Programm aufgelegt, das 2000 dauerhafte Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose schaffen soll. Reicht das?
Es ist anzuerkennen, dass das Land im Rahmen seiner Möglichkeiten bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit unterstützt, auch wenn dieses Programm nur zeitlich befristet ist. Es kommt nicht nur den Betroffenen zugute, sondern auch deren Familien. Es ist wichtig, dass Kinder in einem Umfeld groß werden, in welchem Beschäftigung normal ist und nicht Arbeitslosigkeit. Besser wäre es allerdings, echte sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse für die Zielgruppe zu schaffen. Die müssen zusätzlich und gemeinnützig sein und mit den Sozialpartnern und der Wirtschaft vor Ort abgestimmt werden, um den Wettbewerb auf dem regulären Arbeitsmarkt nicht zu verzerren. Wir haben mit der Bürgerarbeit, die ein ähnliches Konzept verfolgte, gute Erfahrungen gemacht. Ein solches Instrument sollte wieder eingeführt werden.

Sachsen-Anhalt braucht bis 2020 Zehntausende neue Fachkräfte, zugleich ist die Zahl der Auszubildenden auf einem Tiefstand. Wo sollen die Fachkräfte herkommen?
Wir haben zusammen mit dem Zentrum für Hochschulforschung (ZfH) in Halle bereits vor zwei Jahren in einer Studie prognostiziert, dass in Sachsen-Anhalt bis 2020 80.000 Fachkräfte benötigt werden. Dieses Szenario wird offensichtlich Realität. Wir haben gegenwärtig und auch künftig im Land aber nicht die Reserven, den Bedarf auszugleichen. Wir brauchen also Zuwanderung von außen, die realistischerweise aus Drittstaaten erfolgen muss, weil fast alle europäischen Länder mit ähnlichen demografischen Herausforderungen und Fachkräftebedarfen zu tun haben.

Es fehlt nicht nur an Bewerbern. Gewerkschaften kritisieren niedrige Löhne. Friseurlehrlinge etwa verdienen im ersten Lehrjahr nur 153 Euro. Müssen Unternehmen hier nicht auch umdenken?
Arbeitgeber müssen sich den Gegebenheiten auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt anpassen. Wer das nicht macht, riskiert, irgendwann ohne Arbeitskräfte dazustehen. Denn Bewerber stehen nicht mehr Schlange und viele Interessenten wissen auch, dass sie begehrt sind. Dementsprechend haben sie ihre Ansprüche und artikulieren die auch. Unternehmen, die ihren Mitarbeitern faire Löhne, gute Perspektiven und Möglichkeiten bieten, Beruf und Privatleben miteinander zu verbinden, haben die Nase vorn.

Sie setzen auf Zuwanderer, um den Bewerbermangel zu decken, dabei kamen viele Flüchtlinge zuletzt ohne Deutschkenntnisse, nicht wenige mit mangelnder Schulbildung. Können sie den Mangel wirklich mildern?
Sie können zumindest einen Beitrag leisten. Wie groß der ist, hängt davon ab, ob sie in Sachsen-Anhalt bleiben, in andere Bundesländer gehen oder ihre Heimat zurückkehren. Wir sollten alles dafür tun, in diejenigen zu investieren, die dauerhaft bleiben und sich eine Zukunft aufbauen wollen. Das ist zum Teil langwierig, wird sich aber auch langfristig lohnen.

Welche Anreize müssen Politik und Wirtschaft setzen?
Was die Anwerbung von ausländischen Auszubildenden angeht, haben wir im Land gute Erfahrung mit europäischen Programmen wie etwa „Mobipro-EU“ gemacht. Solche Programme sollten wieder aufgelegt werden. Deutschland braucht darüber hinaus ein Einwanderungsgesetz, das die Anwerbung und Zuwanderung von Arbeitskräften regelt. Und natürlich müssen in den Regionen in Sachsen-Anhalt Rahmenbedingungen vorherrschen, die für Einwanderer attraktiv sind. Im Klartext: Wir müssen auf die Frage Antworten geben können, warum eine Fachkraft etwa aus Vietnam oder den Philippinen nach Stendal, Magdeburg oder Weißenfels kommen sollte, statt nach Bayern oder ins Rhein-Main-Gebiet zu gehen. Arbeits-, Wohn- und Lebensbedingungen sind dabei ebenso wichtig wie eine gelebte Willkommenskultur.

Genügt der Beitrag, den die Zuwanderer selbst leisten?
Erfolgreiche Integration verlangt ein Zugehen von beiden Seiten. Einwanderer müssen unser gesellschaftliches Wertebild genauso akzeptieren und beachten, wie wir auf ihre religiösen oder kulturellen Besonderheiten eingehen müssen. Mit Blick auf den Arbeitsmarkt ist besonders wichtig, dass Einwanderer unsere Sprache lernen. Denn ohne Kenntnisse der deutschen Sprache gibt es keine Integration und damit auch keine Chance auf einen auskömmlichen Job. Es ist außerdem von Vorteil, wenn bei der Jobwahl nicht der kurzfristige Verdienst, sondern die langfristige Perspektive eine Rolle spielt. Sprich: Es ist besser eine Ausbildung zu machen und sich dann weiterzuentwickeln, als dauerhaft einen Helferjob mit sehr instabiler Berufsbiografie zu haben.

Wie lange wird die Integration der Zuwanderer, die 2015 nach Deutschland kamen, in den Arbeitsmarkt noch dauern?
Die Integration von Geflüchteten ähnelt eher einem Langstreckenlauf als einem Sprint. Die größte Herausforderung ist sicherlich die fehlende Sprachkompetenz. Dazu kommen andere Faktoren wie fehlende Schulbildung, unklare Berufsqualifikationen und langwierige Anerkennungsverfahren von im Ausland erworbenen Abschlüssen. Es gibt Untersuchungen und Prognosen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, die davon ausgehen, dass im ersten Jahr circa acht Prozent der Flüchtlinge eine Beschäftigung aufnehmen. Nach fünf Jahren haben rund 50 Prozent eine Beschäftigung gefunden und nach 15 Jahren trifft dies auf 70 Prozent der Neuankömmlinge zu.