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Chemiestandort Bitterfeld riecht wieder gut

Die Umweltsünden am Chemiestandort Bitterfeld verliehen der Stadt einen einzigartigen, aber wenig schmeichelhaften Geruch.

26.06.2019, 23:01

Bitterfeld l Faule Eier. Es sei denn, zu Ostern wurde hinter der Schrankwand mal eins vergessen, hat kaum jemand das eine, geschweige denn mehrere faule Eier zu Gesicht bekommen. Und doch scheint jeder zu wissen, wie sie riechen – nämlich bestialisch. Der Geruch breitet sich aus, wenn giftiger Schwefelwasserstoff freigesetzt wird. Ein Gestank, der viele Jahre lang prägend für Bitterfeld-Wolfen und die Region war. Aus der Braunkohlegrube „Johannes“, als Silbersee bekannt, stieg der Geruch auf und wurde zum Sinnbild für die in der DDR begangenen Umweltsünden. Denn nicht nur im Silbersee, auch in zahlreichen weiteren Deponien lagern noch immer Tonnen an Müll. Die riesigen Löcher am Chemiestandort wurden für die schnelle und kostengünstige Beseitigung zahlreicher chemischer Stoffe genutzt.

Bis heute ist das Grundwasser kontaminiert. Der Gestank ist verflogen, doch das Image haftet immer noch ähnlich fest an der Region wie der Schlamm in den Gruben. „Das liegt auch daran, dass die Menschen hier nicht sehen, wie viele positive Dinge seit der Wende passiert sind“, glaubt Stefan Müller. „Der Strukturumbruch ist gut verlaufen, darauf sollte man stolz sein. Aber die Menschen sehen oft lieber die negativen Dinge.“

Müller sitzt gerade auf weißen Hochglanzmöbeln, die von ebenso strahlenden Sonnensegeln geschützt werden. Dahinter ist ein kleiner Teich fein säuberlich mit bunten Pflanzen angelegt. Rote Kissen sorgen für Farbtupfer. Was aussieht wie der hippe Hinterhof eines Startups in Berlin-Kreuzberg, ist das Firmengelände des Familienunternehmens Miltitz Aromatics im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen. Seit mehr als 17 Jahren stellt das Unternehmen mit Hilfe von chemischer Synthese Riech- und Aromastoffe her. Die stinkenden Tagebau-gruben sind hier, wo Zitrus- und Mentholdüfte durch die Luft fliegen, gefühlt weit weg.

Von den rund 3000 Stoffen, die in der Parfümerie eingesetzt werden, stellt Miltitz Aromatics knapp 60 Komponenten her und verkauft sie dann an Mischbetriebe. „Wir bedienen eine Nische und sind Zulieferer für die großen Konzerne, damit können wir gut leben“, sagt Müller. Mehr als 100 Kunden in 34 Ländern hat das Unternehmen mittlerweile. Umsatz im vergangenen Jahr: 13,4 Millionen Euro.

Durch den Verkauf von Patenten wurde in der Vergangenenheit die Refinanzierung sichergestellt. Erst vor drei Jahren wurde für 1,5 Millionen Euro eine neue Destillationsanlage gebaut. Die hergestellten Riech- und Aromastoffe haben in der Regel einen Reinheitsgehalt von rund 95 Prozent. Nur in wenigen Fällen lohne es sich, so lange zu destillieren, bis 99 Prozent erzielt werden. „Hier müssen wir einfach Kosten und Nutzen abwägen“, so Müller.

Doch auch in der Nische agiert die Firma nicht konkurrenzlos, weshalb viel Geld in die Innovation und Forschung fließt. Nach spätestens acht Jahren hat ein Riechstoff seinen Zenit überschritten. Entdeckt ein Konzern den Riechstoff für sich, kann er ihn aufgrund deutlich größerer Mengen kostengünstiger produzieren. „Da können wir dann nicht mithalten“, sagt Müller. Seit 2014 leitet er das Unternehmen mit 46 Mitarbeitern in zweiter Generation. Er sei stolz darauf, wie gut der Generationswechsel funktioniert habe. „Sowohl von meinem Vater als auch von den Gesellschaftern war das Vertrauen immer da“, sagt der 41-Jährige.

Viele Dinge habe er von seinem Vater übernommen, aber auch einiges anders gemacht. Festgehalten hat er an der eigenen Ausbildung von Fachkräften. Aktuell werden sieben Nachwuchskräfte zu Chemikanten ausgebildet. „Ich lege aber mehr Wert auf Ästhetik und darauf, dass meine Mitarbeiter, wenn sie schon acht Stunden hier verbringen müssen, in einer angenehmen Atmosphäre arbeiten“, so Müller. Neben ihm steht ein noch junger Lindenbaum. Sein Lieblingsduft, aber auch Symbol für den Mittelpunkt, „wie im Dorf, wo sich dann alle um die Linde herum versammeln. Genauso soll dieser Ort hier auch wahrgenommen werden.“.

Und das wird er von den meisten Mitarbeitern auch. Andreas Otto muss es wissen, seit mehr als 20 Jahren arbeitet er für Miltitz Aromatics als Produktionsleiter. Er kommt aus Raguhn-Jeßnitz, einer Stadt nördlich von Bitterfeld-Wolfen. Der Gestank, na klar, der war bestialisch früher, erinnert sich Otto. Aber das nehme man irgendwann einfach nicht mehr wahr. Die Umwelt hätte sich inzwischen deutlich verbessert. „Die Abrissmaßnahmen der alten Industrieanlagen und die Beseitigung der Bodenkontaminationen sind weitestgehend abgeschlossen“, sagt auch Harald Rötschke von der Mitteldeutschen Sanierungs- und Entsorgungsgesellschaft, die sich um die Altlasten kümmert. Auch die Sanierung der Abfallablagerungen und Deponien schreitet voran.

So sind am Silbersee seit Jahren keine Messwerte auftgetreten, die die Leitwerte der Weltgesundheitsorganisation (WHO) überschritten haben. Nur in Ausnahmefällen, zum Beispiel beim Aufbrechen einer lange bestehenden Eisdecke der Wasseroberfläche, kann man den beißenden Geruch noch immer wahrnehmen. Die Grundwasserkontamination hingegen ist ein langfristiger Sanierungsfall. Um ein Ausbreiten des Grundwasserschadens zu verhindern, werden Einzelbrunnen und ganze Brunnengalerien im Chemiepark eingesetzt. Otto freut sich indes schon darüber, dass man zu Hause mittlerweile problemlos die eigene Wäsche wieder aufhängen kann. Wegziehen? Das kam für ihn nie infrage.

Auch Laborantin Maria Taube arbeitet seit mehr als zehn Jahren bei Miltitz Aromatics. „Jeder Tag ist anders und aufregend, vor allem weil wir immer wieder neue Stoffe entwickeln“, sagt die 31-Jährige.

In welchem Parfüm die von ihr und ihren Kollegen hergestellten Komponeneten landen, weiß niemand. Lange Zeit wurde die Firma mit dem weltweit berühmten Parfüm Chanel No. 5 in Verbindung gebracht. Eine Geschichte, bei der Müller die Nase rümpft. „Das ist so eine kolportierte Sache. Wir haben lange Zeit ein Aldehyd hergestellt, das die geruchsbestimmende Komponente in Chanel No. 5 ist.“ Allerdings sei Miltitz Aromatics nicht der einzige Produzent dieses Aldehyds gewesen. „Ob wir also wirklich in Chanel No. 5 waren, kann niemand sagen.“

In naher Zukunft will Müller mit einem neuen Stoff an den Markt gehen. Kein einfaches Unterfangen für ein mittelständisches Unternehmen. Die Zulassung ist kompliziert und kostet vor allem viel Geld. Doch Müller ist nicht der Typ, der zuerst daran denkt, was nicht funktioneren könnte. Positiv denken, das muss ihm keiner beibringen.