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Corona-Sprechstunde Wie ansteckend sind Kinder?

Aus aktuellem Anlass wird die Corona-Sprechstunde erweitert: Wie infektiös sind Kinder? Und: Die Angst vor dem Krankenhaus.

Von Jens Schmidt 23.05.2020, 01:01

Magdeburg l In dieser Woche überraschten Kinderärzte und Krankenhaushygieniker uns mit der Botschaft: Kinder seien weit weniger ansteckend als bisher angenommen. Schulklassen sollten nicht getrennt, sondern wieder zusammen lernen. Bislang hieß es stets: Gerade Kinder zeigen nach einer Corona-Ansteckung kaum Symptome und können so unbemerkt viele anstecken. Da nach Pfingsten an Sekundarschulen und Gymnasien der Wechsel-Unterricht startet und frühestens ab 8. Juni an Grundschulen sogar wieder in ganzen Klassen gelernt werden soll, ist das Thema brisant.

Im zweiten Teil geht es um die Sorge, sich in Kliniken mit Coronaviren anzustecken. Daher haben viele jetzt einen Bogen um den Arzt gemacht. Keine gute Idee, sagen Mediziner. Schon vor Corona hatten in Sachsen-Anhalt überdurchschnittlich viele Betroffene große Tumore, weil sie zu lange gewartet haben.

Heute sitzen in der Sprechstunde der Uniklinik Magdeburg: die Professoren Martin Schostak (Urologie), Achim Kaasch (Mikrobiologie), Gernot Geginat (Krankenhaushygiene), Rüdiger Braun-Dullaeus (Herzerkrankungen) und Hans-Jochen Heinze (Neurologie/Ärztlicher Direktor) sowie Oberarzt Dagobert Wiemann (Kinderheilkunde).

Volksstimme: Vier Ärzteverbände sagen jetzt, dass Kinder das Virus weniger verbreiten als Erwachsene. Haben sie recht?

Gernot Geginat: Wir müssen das differenziert betrachten. Was wissen wir? Erstens: Mit Corona infizierte Kinder haben meistens keine oder kaum Symptome; nur selten erkranken sie schwer, weshalb Infektionen wahrscheinlich nur ungenügend erfasst werden. Zweitens: Kinder tragen nach bisherigen virologischen Untersuchungen wahrscheinlich die gleich hohe Viruslast wie Erwachsene. Drittens: Es gibt derzeit noch keinen Evidenz dafür, dass Kinder eine große Rolle bei der Ausbreitung des Virus spielen. Im Umkehrschluss heißt das aber nicht, dass sie keine Rolle spielen.

Achim Kaasch: Da Kinder weniger Symptome zeigen, daher auch weniger husten, verteilen sie weniger Tröpfchen und damit weniger Viren. Das deutet eher auf eine geringere Ansteckungsgefahr hin. Aber einen Beweis haben wir noch nicht.

Hätten Sie das Papier der Verbände unterzeichnet?

Geginat: Ich hätte das Papier in der vorliegenden Form nicht unterzeichnet. Dafür wissen wir noch zu wenig, um allgemein Regeln und Handlungsempfehlungen daraus abzuleiten. Daher war es auch richtig, Kitas und Schulen im März zu schließen.

Hans-Jochen Heinze: Aber genauso wichtig ist es jetzt, sie wieder zu öffnen. Die psychischen und kognitiven Schäden der Kinder durch die Isolation sind bei diesem Sachverhalt nicht zu rechtfertigen. Geschlossene Schulen und Kitas haben Familien stark belastet. Es gibt Hinweise auf einen Anstieg häuslicher Gewalt.

Kaasch: In Sachsen-Anhalt waren von den 1693 diagnostizierten Fällen nicht einmal dreißig Unter-Zehn-Jährige dabei. Mir sind bislang keine Fälle bekannt, wo Kinder Infektionswellen ausgelöst hätten. Wenn das so bleibt, sollte man spätestens nach den Sommerferien wieder in den Normalbetrieb wechseln.

Müsste in Schulen und Kitas verstärkt getestet werden?

Geginat: Das ist wichtig: So können wir die Krankheit bei den Kindern und dem Personal früh erkennen und sehen, wie der Verlauf ist und ob es zu Ansteckungen kommt.

Es gibt Hinweise, dass Corona bei Kindern das Kawasaki-Syndrom auslöst. Was steckt dahinter?

Dagobert Wiemann: Das Kawasaki-Syndrom bezeichnet ein Krankheitsbild bei kleinen Kindern, das eventuell durch Viren ausgelöst wird und sehr selten auftritt. Es handelt sich dabei um eine Entzündung der Blutgefäße. Wir sehen hier im Jahr im Mittel zwei Fälle. Betroffen sind Kleinkinder bis zum zweiten Lebensjahr.

Sie bekommen hohes Fieber, oft mehr als fünf Tage lang, haben Ausschlag und oft eine rote Zunge, eine sogenannte Erdbeerzunge. Die Krankheit ist heilbar, muss aber schnellstmöglich stationär behandelt werden, da es unter anderem zu einer Schädigung der Herzkranzgefäße kommen kann.

Es werden nun Fälle berichtet – aber noch nicht bei uns – , dass Kinder im Zusammenhang mit Covid-19 diese Symptome zeigen. Mit Unterschieden: Die Kinder haben oft Bauchschmerzen und Schockzustände und sind älter, zwischen 7 und 10 Jahren. Deshalb spricht man von einem kawasakiähnlichem Syndrom. In Deutschland gibt es etwa 15 Fälle, in New York wurden 300 Fälle gemeldet, was natürlich immer noch selten ist bezogen auf die Gesamtbevölkerung. Dennoch muss man an dieses Krankheitsbild bei entsprechenden Symptomen denken.

Heinze: Es ist daher wichtig, dass Eltern wissen: Wenn ihre Kinder mehr als fünf Tage hohes Fieber und eine deutliche Beeinträchtigung des Allgemeinzustands haben, müssen sie unbedingt den Arzt aufsuchen. Der Gesundheitszustand kann sich sehr schnell verschlechtern.

Viele machen aus Furcht vor Corona um Kliniken jetzt aber einen Bogen.

Heinze: Das ist ein großes Problem. Wir hatten im März und im April jeweils fast 1000 Operationen weniger. Das bedeutet, dass die Patienten aus Furcht vor Corona notwendige Operationen verschoben haben. Damit gehen sie ein extremes Risiko ein. Wir haben ja schon in mehreren Videobotschaften an die Patienten darauf hingewiesen.

Martin Schostak: Wir merken das besonders stark in der Urologie.

 

Warum?

Schostak: Da wir es oft mit Krebs zu tun haben. Ob Niere, Blase, Prostata oder Hoden: Gut ein Drittel der Tumorerkrankungen betreffen die Urologie. Jetzt betreiben viele Leute Vogel-Strauß-Politik und sagen: Ich habe zwar Probleme, aber ich verschiebe die Operation bis eine Corona-Impfung da ist. Oder etliche tauchen ab und gehen nicht zur Früherkennung. Doch ehe ein Impfstoff gefunden wird – wenn er überhaupt gefunden wird - , können Jahre vergehen. Es besteht die Gefahr, dass wir zurück in die 60er Jahre fallen, in denen es praktisch keine Verfahren der Früherkennung gab. Wir haben heute dank der Kernspintomographie extrem gute Möglichkeiten, Probleme früh zu erkennen.

Worin bestehen die Gefahren?

Schostak: Krebst wächst lange Zeit oft ohne Symptome. Wenn Patienten erst kommen, wenn sie starke Schmerzen haben, sind oft schon Metastasen gewuchert. Dann ist es meist zu spät. Übrigens muss ich in meiner Sprechstunde feststellen, dass die Patienten besonders spät zum Arzt gehen und sich dadurch die Prognose verschlechtert. Ich bin bei Operationen oft mit deutlich größeren Tumoren konfrontiert als in meiner früheren Zeit in Berlin. Und jetzt hat sich die Lage noch weiter verschlechtert: Vor Corona hatten wir Wartezeiten bis zu drei Monaten, jetzt haben wir so viel freie Kapazität, dass die Patienten nur noch einen Monat warten müssen.

Patienten mit Bluthochdruck sind verunsichert, ob sie ihre Medikamente weiter nehmen sollen oder ob diese Corona noch verstärken.

Rüdiger Braun-Dullaeus: Ich kann nur sagen: Bitte, bitte – nehmen Sie die Medikamente weiter. Also die AT-1-Blocker – Sartane – oder ACE-1-Hemmer. Es wird derzeit diskutiert, ob der ACE-1-Hemmer die so genannten ACE-2-Rezeptoren vermehrt. Über diesen Rezeptor gelangt das Coronavirus in die Zellen. Aber: Das Risiko, bei Bluthochdruck und Schlaganfall schwer zu erkranken, ist viel höher nach Weglassen dieser Medikamente als das eventuelle Risiko durch Corona als bei Corona.

Was ist mit Beta-Blockern?

Braun-Dullaeus: Auch diese Tabletten sollen Patienten nicht absetzen.

Leser fragen, ob die Infektionsgefahr beim MRT erhöht ist, weil ein Patient nach dem anderen in die „Röhre“ kommt.

Geginat: Die Risiken sind extrem gering. Die Geräte sind mit einer Lüftung ausgestattet, so dass ein hoher Luftaustausch gegeben ist. Aerosole können auch kaum entstehen, da nicht geredet wird. Zudem werden die Liegeflächen nach jedem Patienten desinfiziert.

Heinze: Und alle stationären Patienten werden bei ihrer Aufnahme auf Corona getestet. Bei einer geplanten Operation wird bereits einen Tag vor der Aufnahme der Abstrich genommen, so dass das Ergebnis schon vor der OP vorliegt.

Wie sieht es bei Ärzten und Schwestern aus?

Heinze: Getestet wird in allen Risikobereichen. Wir bauen das schrittweise aus: Ziel sind 1200 bis 1500 Tests pro Woche.

Was heißt Risikobereiche?

Geginat: Zum einen sind das Bereiche wie die Zentrale Notaufnahme oder die Fieberambulanz für Corona-Verdachtsfälle sowie jene Bereiche, wo die diagnostizierten Corona­patienten behandelt werden. Zum anderen testen wir intensiv in Bereichen mit besonders gefährdeten Patienten wie etwa in der Hämatologie. Vom Arzt über die Reinigungskraft bis zum Seelsorger.

Gelten Abstandsregeln auch auf Zimmern?

Geginat: Wir haben Vier-Bett-Zimmer auf zwei oder drei Betten reduziert.

Heinze: Zum Ausgleich bauen wir bis Jahresende einen Container mit 99 Betten. Der Landtag hat dafür grünes Licht gegeben.

Wie steht es um Maskenpflicht?

Geginat: Alle Mitarbeiter tragen generell Mund-Nasen-Schutz. Sobald das Risiko steigt, tragen sie FFP-2- oder FFP-3-Masken. Das gilt zum Beispiel bei der Mundpflege während der Körperpflege des Patienten oder etwa für Ärzte bei Hals-Nasen-Ohren-Untersuchungen oder in der Kieferorthopädie.

Heinze: Es hat sich noch kein Patient bei uns an Corona angesteckt. Mein Appell: Niemand sollte Untersuchungen oder Operationen aufschieben.