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Trauer Das erste und letzte Foto vom Kind

Eine Fotografin aus der Altmark hilft den Eltern von "Sternenkindern" mit einem besonderen Angebot bei der Trauerbewältigung.

07.12.2018, 23:01

Magdeburg l Kathrin Kroll legt das kleine Dreieckstuch mit dem blauen Schleifchen um den kleinen Körper. Der kleine Junge ist eine Frühgeburt. Er kam in der 18. Schwangerschaftswoche zur Welt – etwa vier Monate vor der Zeit. Eine Handvoll Mensch. Nicht lebensfähig.

Die 34-Jährige bewegt sich leise. Sie bettet den kleinen Körper auf ein Kissen und sorgt für das richtige Licht. Dann greift sie zu ihrer Kamera. Das Klicken des Auslösers erscheint laut.

Kathrin Kroll fotografiert seit Dezember 2015 „Sternenkinder“. Kinder, die vor, während oder nach der Geburt gestorben sind. Die Gardelegerin ist die einzige Fotografin der Altmark, die auf Wunsch der Eltern das erste und letzte Andenken vom verglühten Sternchen anfertigt.

„Vor drei Jahren habe ich auf einer Internetseite gelesen, dass Fotografen gesucht werden, die es sich zutrauen, die kleinen Verstorbenen abzulichten. Und da ich nun mal ein cleveres Kerlchen bin, habe ich mich gemeldet.“

Die Kontakte laufen über den "Sternenkinderverein" und Seelsorger von Krankenhäusern. „Betroffene Eltern werden gefragt, ob sie eine Aufnahme wünschen. Viele möchten das unbedingt.“ Wie viele Fotos sie während der vergangenen 24 Monate gemacht hat, weiß Kathrin Kroll nicht. „Zu viel“, sagt sie nur.

Die Frau mit eigenem Fotogeschäft in Gardelegen hat zwei gesunde Kinder – zwölf und vier Jahre alt – sie kann sich aber trotzdem in den Schmerz der Hinterbliebenen einfühlen. „Die Reaktionen der Eltern sind sehr verschieden. Die einen nehmen den Umschlag mit den Fotos und legen ihn zur Seite, um sich die Bilder vielleicht erst Tage später anzusehen. Andere nehmen sie sofort heraus und schauen sie sich ganz intensiv an.“

An einen Fall kann sich die Frau, die vier Jahre bei der Bundeswehr war und auch bei Auslandseinsätzen dabei war, noch ganz besonders erinnern Er war besonders tragisch.

„Eine Frau aus Stendal hatte eine ganz normale Schwangerschaft. Nachdem kurz vor Weihnachten die Wehen eingesetzt hatten und sie zur Entbindung ins Krankenhaus gegangen war, stellten sich Komplikationen ein. Es war ein seltener Plazenta-Riss.“ Obwohl eine halbe Stunde versucht worden sei, das Baby zu reanimieren, starb es. „Die Frau – Mitte 40 – hatte sich so auf ihr erstes Kind gefreut.“ Manchmal fotografiert Kathrin Kroll im Krankenhaus, manchmal zu Hause, manchmal auch zusammen mit den Eltern.

In einem anderen Fall war ein schwerkrankes Baby aus Havelberg von den Eltern von der Berliner Charité zum Sterben nach Haus geholt worden. „Nachdem die kleine Lenya-Marie fünf Tage später gestorben war, wurde ich geholt. Im Kreise der Eltern, Oma, Uroma und Paten machte ich dann meine Aufnahmen.“ Das Mädchen, das nur drei Monate alt geworden war, lag in einem weißen Bettchen, umgeben von Kuscheltieren.Sie hatte ein rosa Mützchen mit lustigem Puschel auf dem Kopf. Zugedeckt war das Baby mit einer Decke mit einer pinkfarbenen Krone – darunter der Name Lenya-Marie. Ein „schlafendes“ Kind vor einer bunten Blumenwiese, auf der sich Trickfilm-Figuren tummeln.

Kathrin Kroll fragt vorher immer nach, wie der Zustand des verstorbenen Kindes ist. „Nicht, weil ich davor zurückschrecken würde, wenn es problematisch ist, aber ich mache mir zuvor immer Gedanken, wie ich das Gesehene würdevoll umsetzen kann.“ Dazu gehörten auch Detailaufnahmen von kleinen Füßen und Händen.

Die „Sternen-“, „Schmetterlings-“ oder „Engelskinder“, wie sie auch genannt werden, haben zwar ihren ganz eigenen Erinnerungstag im Frühjahr, aber morgen ist der Kreis derer, die ihrer verstorbenen Kinder gedenken, viel größer. Am weltweiten Gedenktag kommen vielerorts Eltern, Großeltern und Geschwister zusammen, um an diejenigen zu denken, deren Lebenslicht viel zu früh erloschen ist.

Zu denen, die sich um Hinterbliebene kümmert, gehört Katrin Hartig aus Magdeburg. Die 51-Jährige leitet nicht nur die Regionalstelle „Verwaiste Eltern und Geschwister“ Sachsen-Anhalt, sie ist selbst Betroffene. 2002 hat sie ihren 13 Jahre alten Sohn bei einem Wildwasser-Kanu-Unfall am Magdeburger Wasserfall verloren. Daniel war 13 Jahre alt, als das Unglück geschah, das ihr Leben veränderte. „Man ist tot. Aber das Herz schlägt weiter“, beschreibt sie ihr Gefühl.

Sie schloss sich einem Kreis von Menschen an, denen man „nicht viel erklären muss“. Ansprechpartner in dem „Katastrophen- und Ausnahmezustand“. Und sie fand nach und nach heraus, dass man solche harten Schicksalsschläge „überleben“ kann.

Bei Menschen außerhalb der Gemeinschaft finden Eltern oft kaum Verständnis. Das wurde auch Katrin Hartig zum Beispiel vermittelt: Es ist doch schon ein Jahr her und du bist immer noch traurig. Oder ein typischer Trostversuch: Du hast ja noch andere Kinder.

Wie fast allen Betroffenen gelang es ihr anfangs nur sehr schwer, ihren Neid im Zaume zu halten, wenn ihr eine Familie mit Kindern auf der Straße begegnete: „Warum gerade ich?“

Zwölf Selbsthilfegruppen des Bundes-Verbandes „Verwaiste Eltern und Geschwister“ gibt es in Sachsen-Anhalt. „Die Zahl derer, die darin mitarbeiten, schwankt allerdings sehr“, sagt Regionalleiterin Hartig. „Manche kommen schon nach dem ersten Mal nicht mehr, weil sie es seelisch nicht schaffen, andere verlassen die Gruppe nach ein, zwei Jahren.“ Und das sei auch gut so: „Ein chronisch Kranker bleibt ein Leben lang krank und in seiner Selbsthilfegruppe. Unser Anliegen ist es, dass Betroffene das Leben wieder annehmen und auf eigenen Beinen stehen.“

Die 24 Jahre alte Juliane starb am 1. August 2010. Sie litt an Diabetes Typ 1. Als sie in der Wohnung ohnmächtig wurde, war niemand zu Hause. „Ich habe geschrien und war außer mir“, sagt Martina Otto. „Der Rettungsarzt hat mich unter starke Beruhigungsmittel gesetzt. Ich war so benebelt, dass ich mich von meinem Kind nicht richtig verabschieden konnte.“ Auch später sei sie weiter „ruhiggestellt“ worden.

Erst, als sie selbst entschieden hatte, keine Pillen mehr zu nehmen, konnte sie mit der Trauerbewältigung beginnen. „Für Ärzte ist es der einfachste Weg, Menschen nach einem Schicksalsschlag zu sedieren“, wehrt sich die 60-Jährige entschieden gegen diese Methode.

Im August 2011 stieß sie zur Magdeburger Selbsthilfegruppe: „Treffen war einmal im Monat. Dabei hätte ich es jede Woche gebraucht.“ Des Öfteren habe sie auf dem Balkon gestanden und überlegt: Es ist nur noch ein Schritt und du hast alles hinter dir. „Doch dann habe ich an meinen Sohn gedacht. Für ihn habe ich weitergelebt.“

Dass der Tod eines Kindes ein Tabu-Thema ist, hat auch Birgit Schneider erfahren, nachdem ihr Sohn Christopher mit 25 Jahren gestorben war. „Viele Bekannte machen einen Bogen um einen, weil sie nicht wissen, was sie sagen oder wie sie sich verhalten sollen.“

Christopher litt unter einer angeborenen Stoffwechselkrankheit. In der Klinik steckte er sich mit dem sogenannten Krankenhauskeim an. „Weil sei Immunsystem aufgrund der Mukoviszidose sowieso schon geschwächt war, wurde er in den Schlaf versetzt.“ Sie habe an seinem Bett gesessen und sich mit dem Schlafenden unterhalten. „Dabei habe ich gesehen, wie er sich immer mehr verändert hat“, sagt die 54-Jährige und kämpft mit den Tränen. „Ich konnte ihn – anders als viele andere Eltern ihre Kinder – beim Sterben begleiten. Sie habe Christopher im Arm gehalten. „Das kann mir niemand mehr nehmen.“

Über ein Buch fand sie zur Selbsthilfegruppe. „Das Paket von Trauerbegleitung hat mir geholfen“, sagt die Frau aus der Börde. Und Katrin Hartig fügt an: „Trauer ist keine Depression – aber sie wird oft wie diese Krankheit behandelt.“ In den Selbsthilfegruppen dreht sich nicht alles nur um den Verlust des Kindes, eine Vielzahl von Veranstaltungen ist dazu angetan, Betroffene aus der Isolation zu holen, indem sie mit ihren Gefühlen und Gedanken aufgefangen werden und ihre Erfahrungen eines Lebens ohne Kind zu teilen und Mut zu machen.

Katrin, Martina und Birgit betrachten Collagen und gestaltete Namen von verstorbenen Kindern. „Mein Herz trägt für immer deinen Namen“, heißt es. Martina fällt dabei ein „Zeichen“ ein. „Bei einem Urlaub in Nordfriesland fuhr ich an einem Ortsschild vorbei. Darauf stand: „Juliane-Marien-Koog.“ – der Vorname ihrer Tochter.