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DDR-Sozialismus  Mit Geboten neue Menschen formen

Die Schaffung des idealen sozialistischen Menschen war ein besonderes Steckenpferd von Staats- und Parteichef Walter Ulbricht.

Von Steffen Honig 04.07.2018, 01:01

Magdeburg l Es sah gut aus für Walter Ulbricht, damals im Sommer 1958. Der DDR-Parteichef hatte nach dem Aufstand am 17. Juni 1953 Amt und Macht behalten und sich anschließend als Entstalinisierer in Szene gesetzt. In Moskau verfügte der Sachse über den nötigen Rückhalt, in der DDR hatte er sich seiner Kritiker in der oberen SED-Etage entledigt. Ulbricht konnte sich wieder ganz dem Aufbau des Sozialismus widmen.

Wie er sich das vorstellte, erläuterte Ulbricht am 10. Juli 1958 mehr als fünf Stunden lang auf dem V. Partteitag der SED in Ost-Berlin. Der Parteichef redet über den „Kampf um den Frieden, für den Sieg des Sozialismus, für die nationale Wiedergeburt Deutschlands als friedliebender, demokratischer und unabhängiger Staat“.

Wenige Wochen vor dem Parteitag hatte die DDR die Lebensmittelkarten abgeschafft, endlich, acht Jahre nach der Bundesrepublik. Die Wirtschaftslage entspannte sich, die Übersiedlerzahlen gingen zurück. Ulbricht wollte ökonomisch zu Westdeutschland aufschließen und den kapitalistischen Nachbarn sogar beim Konsum abhängen. Zitat: „Es ist durchaus möglich, dass die Lebenshaltung in der Deutschen Demokratischen Republik die Lebenshaltung in Westdeutschland schon 1961 übertrifft.“ Daraus wurde der gängige Slogan „Überholen ohne einzuholen“. Als Zitat ist der Spruch aber nicht verbürgt.

Das nach Auffassung des Parteichefs dafür notwendige gesellschaftliche Rüstzug waren die von ihm präsentierten neuen zehn Gebote der sozialistischen Ethik und Moral. „Das moralische Gesicht des neuen sozialistischen Menschen, der sich in diesem edlen Kampf um den Sieg des Sozialismus entwickelt, wird bestimmt durch die Einhaltung der grundlegenden sozialistischen Moralgesetze“, erklärte Ulbricht.

Die Partei hatte somit ausgerechnet bei der vefemten Kirche eine ideologische Anleihe genommen. Deren Würdenträger nahmen die Attacke auf ihre zehn christlichen Gebote, das „moralische Grundgesetz“, zähneknirschend zur Kenntnis. Die enthaltenenen humanistischen Gedanken nickten sie ab, distanzierten sich jedoch ansonsten umgehend vom klassenkämpferischen Charakter.

Die schwülstige Sprache, in der der sozialistische Religionsersatz formuliert ist, wirkt aus heutiger Sicht – geprägt durch ein kapitalistisches Umfeld – grotesk. Die Parolen müssen jedoch in Raum und Zeit betrachtet werden. Der Zweite Weltkrieg war erst 13 Jahre her, der Kampf zwischen West und Ost noch jung und nicht entschieden. Alles, was Frieden und Wohlstand verhieß, fand Widerhall. Der sozialistische Mensch schien vielen in der DDR keine aufgesetzte Phrase zu sein, sondern ein Ideal, nach dem zu streben sich lohnte.

Die SED-Propagandamaschine lief auf Hochtouren, um die Bevölkerung im sozialistischen Sinne einzufangen. Auf Ulbrichts Geheiß gebar sie immer neue Initiativen und Kampfprogramme. Eine Hausnummer war 1959 der „Bitterfelder Weg“, benannt nach der Kulturkonferenz in der mitteldeutschen Chemiestadt. Daraus entstand die Bewegung „Greif zur Feder, Kumpel!“, in der die Arbeiterklasse die Höhen der Literatur erklimmen sollte.

Der sozialistische Mensch gemäß den zehn Geboten sollte nicht sein individuelles Glück finden, sondern es im Kollektiv teilen. Auch dafür ersann Walter Ulbricht eine gewissermaßen höhere Stufe des gesellschaftlichen Seins: die sozialistsche Menschengemeinschaft. Daran sollte fortan unablässig gebaut werden, trotz aller scharfen gesllschaftlichen Einschnitte wie etwa dem Mauerbau 1961.

Eifrig wurde in Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen über die sozialistische Menschengemeinschaft und ihre Mitglieder berichtet. Wie viel davon real beim Volk ankam und von ihm angenommen wurde, ist nicht bekannt.

Ulbricht jedenfalls konstatierte 1969, zwei Jahre vor seinem Sturz, unverdrossen das Wachsen und Werden der sozialistischen Menschengemeinschaft nach seinem Bilde. Von einem „komplizierten und vielschichtigen Prozess“ war da die Rede, „in dessen Verlauf die Überreste des Alten im Denken, Fühlen und Handeln der Menschen durch die Erziehung und Selbsterziehung der Menschen überwinden werden müssen“.

In den vergangenen Jahren hätten sich in den Brigaden der sozialistischen Arbeit, in den Hausgemeinschaften und bei der Entwicklung der sozialistischen Demokratie viele Elemente der sozialistischen Menschengemeinschaft herausgebildet. „In der Welt hat sich herumgesprochen, dass das ,deutsche Wunder‘, das sich in unserer Republik erreignet hat, nicht einfach ein ,Wirtschaftswunder‘ ist, sondern vor allem in der großen Wandlung der Menschen besteht.“ Wobei Ulbricht auch anmerkte: „Aber wir sind noch bei weitem nicht am Ende des Weges zur sozialistischen Menschengemeinschaft.“

Was ihm verborgen blieb: Sein politischer Ziehsohn Erich Honecker arbeitete bereits an der Absetzung des damals 76-jährigen Ulbricht. Die offene Flanke, über die sich Honecker der Unterstützung des sowjetischen Parteichefs Leonid Breshnew versicherte, war die Wirtschaftskrise, in die die DDR hineingeschlittert war.

In einer Kommando-Aktion im Frühjahr 1971 besetzt Honecker, begleitet von Personenschützern mit Maschinenpistolen, Ulbrichts Haus. Der greise Partei- und Staatschef wird gezwungen, aus gesundheitlichen Gründen um seinen Rücktritt zu ersuchen. Im SED-Politbüro galten die Regeln der sozialistischen Menschengemeinschaft nicht.

Honecker hatte damit ohnehin nicht viel im Sinn. Er ersetzte die Menschengemeinschaft durch die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Was auch nicht funktionierte.