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Demenz Sport gegen das große Vergessen

Forscher aus Magdeburg sind der Krankheit Alzheimer in einem groß angelegten Forschungsprojekt auf der Spur.

Von Alexander Walter 12.11.2018, 00:01

Magdeburg l Plötzlich steht die schmale, alte Dame mit gepacktem Koffer und im Wintermantel im Flur. „Ich fahre zu meinen Eltern, nach Schlesien“, sagt sie mit fester Stimme. Die Familie schaut sich fassungslos an. „Was ist denn mit Oma los?“, fragen die Enkelkinder. – Die traurige Antwort: Die Großmutter leidet an Alzheimer-Demenz.

Beispiele wie dieses sind typisch für die Krankheit im fortgeschrittenen Stadium. Durch die Überalterung der Bevölkerung sind in Sachsen-Anhalt immer mehr Menschen von Demenz-Erkrankungen betroffen. Im achten Lebensjahrzehnt nimmt der Anteil rasant zu. Laut Sozialministerium waren zuletzt 46 000 Bürger pflegebedürftig und dabei geistig eingeschränkt. Die meisten von ihnen litten an Demenz-Krankheiten.

Trotz intensiver Forschung gibt es bis heute keine vielversprechenden Medikamente. Dabei wären wirksamere Therapien dringend nötig: Nach schleichendem Beginn raubt vor allem die Alzheimerkrankheit Betroffenen Erinnerungen, die sie über Jahrzehnte im Gedächtnis bewahrt hatten. „Für Patienten und Angehörige eine kaum zu ertragende Tragödie“, sagt Professor Volkmar Leßmann, Direktor am Institut für Physiologie der Uniklinik Magdeburg.

Immerhin gibt es einen Silberstreif am Horizont: Seit zehn Jahren reift unter Forschern die Erkenntnis, dass Ausdauersport den Krankheitsausbruch mindestens verzögern kann. Wie das funktioniert, untersuchen Wissenschaftler aus mehreren Ländern seit 2016 in einem groß angelegten EU-Forschungsprojekt. Geleitet wird es vom Team um den Physiologen Leßmann an der Magdeburger Uniklinik. In Experimenten mit Mäusen testen die Forscher, wie Sport und geistige Beschäftigung sich auf die Gesundheit der Tiere auswirken. Die Mäuse tragen dabei die Veranlagung für eine besonders heimtückische Form der Demenz. Sie entspricht der erblichen Variante der Alzheimerkrankheit beim Menschen.

Dabei bilden sich schädliche Proteinablagerungen an den Zellen im Gehirn, die den verhängnisvollen Gedächtnisverlust wohl in Gang setzen. Schon im Alter von sechs Monaten – das entspricht beim Menschen etwa 40 Jahren – zeigen betroffene Mäuse unbehandelt klare Defizite, sagt Leßmann. So finden sie auch nach tagelangem Training in einem Wasserbecken eine Plattform viel schlechter wieder als gesunde Tiere.

Die Frage war nun: Ist das anders, wenn sich die Mäuse vor Ausbruch der Krankheit mit Spielzeug geistig fordern oder im Laufrad Sport treiben dürfen? Das Ergebnis: Schon eine anregende Umgebung – beim Menschen entspräche das Lesen oder Knobeln – hat positiven Einfluss auf den Verlauf der Demenz.

Deutlich stärker ist allerdings die Wirkung von Ausdauersport. Im Labor führte er zu einem erheblich verringerten Gedächtnisverlust. Auf Ebene der Zellen im Gehirn beobachteten die Forscher, dass Sport das Absterben der winzigen Schaltstellen – der Synapsen – im Gehirn verhindert. Zugleich bleibt die Signalübertragung von Zelle zu Zelle erstaunlich flüssig. Die Wissenschaftler glauben, dass das mit einem ganz bestimmten Botenstoff, dem BDNF, zusammenhängt. Er wird beim Lernen ausgeschüttet und funktioniert wie ein Schmierstoff für die Synapsen. Grob gesprochen: Treiben Mäuse Sport, produzieren die Synapsen im Gehirn mehr BDNF. Die Signalübertragung bleibt effektiv. Darüber hinaus sorgen sowohl Sport als auch geistige Tätigkeit im Experiment dafür, dass sich weniger der schädlichen Proteine bilden. Wie genau das funktioniert, haben die Forscher noch nicht verstanden.

Ein Heilmittel gegen Alzheimer ist damit nicht gefunden, betont Leßmann. Streng genommen haben die Forscher erstmal nur bewiesen, dass Sport den Ausbruch von Demenz verzögern kann. Ob er auch nach Krankheitsausbruch so positive Wirkungen entfaltet, wollen die Wissenschaftler nun herausfinden.

Die Übertragung der Ergebnisse auf den Menschen liegt gar nicht fern, sagt Leßmann. Wer sich zum Sport nicht durchringen kann, kann sich mit Blaubeeren oder dunkler Schokolade etwas Gutes tun: Auch die beiden Nahrungsmittel kurbeln die Produktion des Schmierstoffs BDNF an. Am besten wirkt aber möglicherweise eine Kombination aus beidem: Also erst joggen und dann Schokolade naschen.