Ungeklärte Kriminalfälle in Sachsen-Anhalt (Teil 9) Der Tätowierte im Elster-Saale-Wehr
In Sachsen-Anhalt werden Jahr für Jahr rund 1500 sogenannte Kapitalverbrechen begangen – darunter rund 100 Tötungsdelikte. Die meisten Fälle werden aufgeklärt. Doch bleiben immer noch einige Straftaten übrig und die Täter unerkannt. Die Volksstimme nimmt sich in ihrer Sommerserie gemeinsam mit Staatsanwaltschaft und Polizei einiger dieser Delikte an und fragt: Wer kann Hinweise geben?
Döllnitz. Isslan Kouliev hat Ende Mai 1996 alle Unterlagen für seine Reise zusammen. Anfang Juni will der Aserbaidschaner nach Deutschland fliegen, um dort seinen Cousin zu besuchen. Ramis Safarow lebt seit 1994 im Raum Halle.
Doch wenige Tage bevor es losgeht, erfährt Kouliev von seinen Eltern, dass dem 33-Jährigen in Deutschland etwas zugestoßen sein soll. Trotzdem tritt Kouliev die mehr als 3000 Kilometer lange Reise von Asien nach Europa an.
Sein Ziel ist der Süden von Halle. Dort hat Safarow zuletzt bei einer Frau gewohnt. Und Jenny war es auch, die ihren Freund am 15. Dezember 1995 bei der Polizei als vermisst gemeldet hatte. Sie habe den Aserbaidschaner am 7. Dezember das letzte Mal gesehen, hatte sie zu Protokoll gegeben.
Zwei Monate lang hatte es keinen Hinweis darauf gegeben, wo sich der Vermisste aufhalten könnte. Und weil Safarow weder minderjährig noch hilflos war und auch kein Verdacht auf eine Straftat vorlag, hatte die Polizei keinen dringenden Anlass gesehen, die Suche "mit vollem Orchester" durchzuführen.
Leiche lag mehr als zwei Monate im Wasser
Doch am 27. Februar 1996 wird aus dem Vermisstenfall eine Todesursachenermittlung – Tendenz: Tötungsdelikt.
Am Nachmittag dieses Wintertags macht Peter Müller (Name geändert) am sogenannten Hubschütz des Saale-Elster-Kanals bei Döllnitz (Saalekreis) eine schreckliche Entdeckung. Im "Rechen" des Wehrs, der im Wasser schwimmende Teile aufhalten soll, hängt ein menschlicher Körper.
Müller alarmiert um 14.37 Uhr die Polizei, die wenig später an der Anlage, die zum Absperren und Aufstauen von Wasserläufen oder Schleusen benutzt wird, eintrifft.
Die Wasserleiche wird aus der Flussregulierungsanlage entfernt und selbst für rechtsmedizinische Laien ist schnell zu erkennen, dass der Tote bereits längere Zeit im Wasser gelegen haben muss.
Sogar die Bekleidung ist aufgrund der langen Liegezeit so zerschlissen, dass man sie nur noch schwer erkennen kann: schwarzes T-Shirt, blaue Jeans, Unterhose, Socken, Halbschuhe. Papiere hat der Tote nicht bei sich. Somit ist eine Identifizierung zu Beginn der Ermittlungen nicht möglich.
"Doch von Anfang an haben wir uns Hoffnungen gemacht, dass der Mann aufgrund seiner auffälligen Tätowierung zu identifizieren ist", erinnert sich Staatsanwalt Klaus Wiechmann aus Halle dieser Tage.
Dass diese Hoffnung nur zu begründet ist, erweist sich beim Besuch von Kouliev in Halle. Wiechmann: "Er beschrieb uns die Tätowierungen seines Cousins. Safarow habe auf seinem rechten Mittelfinger das Wort "Mama" tätowieren lassen. Auf der linken Brust stehe der Name seines Neffen."
Doch das Wichtigste ist für die Ermittler die Beschreibung des Arm-Tattoos. Kouliev spricht von einer Hand, die eine Fackel trägt, und darunter eine Inschrift in Kyrillisch. Doch trifft das die Symbolik nicht hundertprozentig. Wiechmann: "Es handelte sich mehr um zwei tulpenähnliche Blumen in einer Hand."
Der Gast aus Aserbaidschan bekommt Farbfotos der Tätowierungen vorgelegt, und er ordnet sie zweifelsfrei seinem Cousin zu.
Hilfreich ist auch die Aussage, dass der Ex-Boxer als Aktiver beim Kampf einen Nasenbeinbruch erlitten hatte.
Da auch die Freundin die auffälligen Tattoos identifiziert, ist zumindest eines klar: Der Tote ist Ramis Safarow.
Die Finger im Drogengeschäft?
Doch sind das beinahe alle Fakten, die es zu diesem ungeklärten Fall gibt. Denn bereits bei der Todesursache bleibt die Rechtsmedizin nur vage. Der Fäulniszustand der Leiche lässt keine klare Aussage zu.
Zwar finden die Obduzenten erhebliche äußere Verletzungen. Doch gehen sie davon aus, dass diese "postmortal" sind, wie des öfteren bei Wasserleichen. Durch das lange Treiben im Wasser, Schleifen auf dem Grund, Kollisionen mit Schiffen treten häufig derartige Verletzungsbilder auf. Vieles deute allerdings darauf hin, dass der Mann ertrunken sei, heißt es im Sektionsbericht.
Die Liegezeit im Wasser kann ebenfalls nur geschätzt werden. Doch da Safarows Freundin in ihrer Vermisstenanzeige den 7. Dezember 1995 als jenen Tag angegeben hatte, an dem sie ihn zum letzten Mal sah, gehen die Ermittler davon aus, dass der Todeseintritt wenn nicht sogar am selben Tag, dann jedoch kurz darauf gewesen sein muss. Das würde sich mit den dünnen Erkenntnissen der Rechtsmedizin decken.
Auch zur Person des Toten gibt es nur wenig gesicherte Erkenntnisse. 1994 war er als Tourist in Deutschland eingereist. Dann hatte er "unglücklicherweise" seinen Pass verloren und blieb. Er wohnte bei verschiedenen Landsleuten im Großraum Halle – zuletzt bei seiner Freundin Jenny.
Hellhörig werden die Ermittler, als sie aus verschiedenen Quellen erfahren, dass der Aserbaidschaner seine Finger im Drogengeschäft gehabt haben könnte. Sein Cousin spricht sogar davon, dass sich Safarow "selbst Rauschgift gespritzt" habe. Doch das kann die Obduktion aufgrund des bereits erwähnten Leichenzustands nicht untermauern.
Die Polizei geht der Theorie nach, dass der 33-Jährige Opfer eines Drogenstreits geworden sein könnte. Denn unter seinen Bekannten hat es einige Personen gegeben, die dem Drogenmilieu recht nahe stehen. Und wirklich verdichtet sich bald der Verdacht, dass zwei Landsleute, Artur M. und Firdowi A., etwas mit dem Tod Safarows zu tun haben könnten. "Aber der Tatverdacht hat sich letztlich nicht erhärtet", sagt Staatsanwalt Wiechmann.
Bis heute liegen sowohl Motiv als auch Tathergang völlig im Dunkeln. Lediglich ein Suizid scheint auszuscheiden.
Nicht völlig auszuschließen, aber nach Ansicht der Staatsanwaltschaft nicht sehr wahrscheinlich, ist ein Unfall.
Möglicherweise hat der Cousin des Opfers mit seiner Vermutung recht: "Ramis wurde ausgeraubt, umgebracht und ins Wasser geworfen."
Die Staatsanwaltschaft Halle stellt am 5. März 2008 die Ermittlungen im mysteriösen Fall "Ramis Safarow" ein. Wiechmann: "Wir sehen gegenwärtig keine Ansatspunkte mehr, um in irgendeiner Richtung voranzukommen."
Am Freitag:
Todesschüsse auf den Geldtransport
Sietzsch. In der Nacht vom 19. zum 20. Dezember 1996 werden zwei Wachleute überfallen, die vom Lager einer Möbelfirma Geld abholen. Ein Wächter wird bei dem Überfall erschossen.
(Aufgrund der Berichterstattung zum 50. Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 1961 erscheint Teil 10 der Serie bereits am Freitag, dem 12. August.)