Ein Gespräch mit dem Magdeburger Neurobiologen Professor Henning Scheich über den besonderen Reiz, eine Zeitung zu lesen "Ein guter Artikel ist wie ein Musikstück"
Bald erscheint die Volksstimme in neuer Aufmachung. Doch wie funktioniert Zeitung? Was passiert im Kopf, wenn wir eine Zeitungsseite betrachten? Wie wählen wir Artikel aus? Welchen Stellenwert hat Lesen als Informationsübermittlung im Internetzeitalter? Über diese und andere Fragen sprach Volksstimme-Redakteur Oliver Schlicht mit dem Magdeburger Neurobiologen Prof. Henning Scheich.
Volksstimme: Herr Professor Scheich, was passiert im Kopf eines Zeitungslesers, wenn er eine neue Seite aufschlägt?
Professor Henning Scheich: Da wird eine Suchmaschinerie angeschaltet. Diese Seite ist vergleichbar mit einer fremden Umgebung. Da suchen wir auch erst einmal herum, was es so alles gibt. In der Zeitung bleibt der Blick zu Beginn primär auf Bildern hängen. Erst dann entscheidet der Leser anhand der Überschriften, welche Inhalte für ihn persönlich von Interesse sind.
Volksstimme: Die Bilder sind also zunächst wichtiger als die Texte?
Scheich: Bilder bedienen perfekt visuelle Scanningreflexe. Denn die Parallelinformationen von Bildern können unmittelbar erfasst werden. Texte müssen sequenziell durchgelesen werden. Bilder enthalten komplexe Informationen, die wir aber sofort beurteilen können. Sie schaffen ein schnelles Relevanzerlebnis: Mag ich das oder mag ich das nicht? Außerdem legen die Bilder uns einen gewissen Sortierzwang auf. Der angeborene Reflex des Menschen, das Unbekannte abzusuchen und zu sortieren, lässt den Leser lange auf die Bilder einer Zeitungsseite blicken.
Volksstimme: Ist das Bild eine Art Brückenkopf zum Text?
Scheich: Das Bild unterlegt die Wertigkeit des Textes. Es erlaubt auch die schnelle Entscheidung: Das interessiert mich! Nur, das Bild enthält keine länger verwertbare gedankliche, sondern eher emotionale Information. Seine Wirkung ist mit der einer Reklame vergleichbar. Ein Pin-up-Girl sitzt auf der Haube eines schönen Autos. Da bildet sich eine Assoziation. Nur, was ist die Aussage davon?
Volksstimme: Um ehrlich zu sein: So richtig erschlossen hat sich die mir noch nie.
Scheich: Ja, aber sie wirkt trotzdem. Wir nennen das Pawlowsche Konditionierung. Zwei Reize werden kombiniert, ohne dass sie direkt miteinander zu tun haben. Es gibt einen stark emotional wirkenden Primärreiz, in diesem Fall das Pin-up-Girl. Und dieser Reiz lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den Sekundärreiz, das Auto.
Volksstimme: Und die Bild-Text-Gestaltung in Zeitungen funktioniert ähnlich?
Scheich: In gewisser Weise ja. Das Bild ist der Angelhaken. Der schnelle Reiz des Bildes verkettet die Aufmerksamkeit des Lesers mit dem dazugehörigen Text. Hinzu kommt, dass von der Authentizität des Bildes der Text profitiert. Der Leser erhofft sich von einem solchen Text zwangsläufig einen höheren Wahrheitsgehalt. Immer vor-ausgesetzt, das Bild ist professionell angefertigt und kann seine Wirkung voll entfalten.
Volksstimme: Irgendwann hat sich der Leser für einen Artikel entschieden. Auf welcher Grundlage fällt diese Auswahl überwiegend?
Scheich: Der Ereigniskontext ist ganz wichtig. Kenne ich die Akteure persönlich? Habe ich mit der Sache selbst etwas zu tun? Gehöre ich einer betroffenen Gruppierung an? Das kann die Parteizugehörigkeit sein, aber auch der Beruf oder der Nutzer eines bestimmten Produktes. Wenn der Leser vermutet, dass ihn das Ereignis persönlich tangiert, hat für ihn die Nachricht über dieses Ereignis höchste Priorität.
"Es gibt emotionale Reaktionen, die sich einer bewussten Steuerung entziehen"
Volksstimme: Gibt es unbewusste Faktoren, die unser Interesse an Nachrichten beeinflussen?
Scheich: Sicher. Es gibt emotionale Reaktionen, die sich einer bewussten Steuerung weitgehend entziehen. Die stehen im Zusammenhang mit sehr tief verwurzelten Verhaltensreaktionen. So lösen Andeutungen von Gefahren, etwa das Bild einer Schlange oder Spinne, Angst aus, bevor es überhaupt zu einer bewussten Beurteilung des Bildes kommt. Es können aber auch Reize sein, die schnelle Reaktionen erfordern, die dann unbewusst ablaufen. Niedliche Babys wecken den Beschützerinstinkt, und schöne, halbnackte Körper stimulieren sexuelle Instinkte.
Volksstimme: Spielen solche unbewussten Beeinflussungen bei der Frage eine Rolle, welche Nachricht mich interessiert oder welche nicht?
Scheich: Aber ganz sicher. Die veranlassen anfangs eine Grobsteuerung. Die bewusste Beurteilung einer Nachricht setzt beim Zeitungslesen erst bei der eigentlichen Lektüre des Textes ein.
Volksstimme: Also Schlangen und Spinnen in der Zeitung besser vermeiden?
Scheich: Na, ich weiß nicht. Es gibt im Übrigen auch Reizworte, auf die wir unbewusst ähnlich emotional reagieren. Worte wie Nazi oder Jude. Solche Worte sind in der Zwischenzeit so tief in unser Gehirn gewandert, dass sie eine unmittelbare emotionale Reaktion auslösen.
Volksstimme: Deswegen schwingen Politiker immer wieder gern die Keule des Nazi-Vergleichs?
Scheich: Genau. Manche Politiker spielen ganz bewusst mit diesen Reflexen.
Volksstimme: Der Wert einer Information wird in der Regel daran gemessen, wie neu sie ist. Das mag vor 100 Jahren noch von Belang gewesen sein, heute erscheint es absurd, ob ich - vielleicht abgesehen von Börsennachrichten - eine Information zwei Stunden früher oder später erfahre. Warum liegt der Neuwert, die Exklusivität einer Information heute noch so hoch im Kurs?
Scheich: Neues, das einen überrascht, ist extrem wichtig. Denn vor allem mit Neuem setzt sich der Mensch grundsätzlich intensiver auseinander als mit Altbekanntem. Die alten Griechen haben das im Alltagsgebrauch auf den Punkt gebracht. Sie haben nicht wie wir gesagt: "Hallo, was gibt es Neues?" Die Griechen haben gesagt: "Was gibt es Neueres?" Da steckt die Erkenntnis drin, dass von Neuem sehr viel Her-ausforderung, aber auch Fortschritt und Entwicklung abhängt. Aber es muss auch wirklich neu sein.
Volksstimme: Die Neugier ist so etwas wie die Triebfeder des Lebens?
Scheich: Das kann man so sagen. Neues erzeugt Neugier. Das ist ein wichtiges Thema in der Lernforschung. Nehmen Sie als Beispiel einen Hund, der die Straße entlangtrottet. Dann sieht er etwas liegen, was tags zuvor dort noch nicht lag, also etwas Neues. Die Strategie ist immer: vorsichtige Annäherung. Wir nennen das ein ambivalentes Verhalten. Der Hund fühlt sich magisch angezogen, wird sich dem Neuen aber trotzdem nur langsam und mit Vorsicht nähern. Der Grund ist: Das Neue kann etwas höchst Positives sein, aber auch etwas sehr Negatives. Sich bewegende Tiere und ihre Hirnentwicklung sind darauf gerichtet, zufällig auf Neues zu treffen und zu lernen, davon Vorteile zu haben und Nachteile zu vermeiden.
Volksstimme: Und weil auch der Mensch ein "sich bewegendes Tier" ist, durchforstet er die Zeitung nach Neuigkeiten - vom Sofa aus?
Scheich: Richtig. Diesem Urtrieb folgen wir Menschen auch beim Zeitunglesen. Das Lesen einer Neuigkeit eröffnet immer auch die Chance einer positiven Veränderung. Und diese Chance wollen wir keineswegs verpassen.
Volksstimme: Vorausgesetzt, wir sind bereit, uns der Aufgabe des Lesens zu stellen. Junge Menschen scheinen davon zunehmend wenig zu halten. Sind die Kinder heute dümmer als ihre Eltern?
"Die Lesefähigkeit selbst ist keine Frage der Intelligenz"
Scheich: Natürlich nicht. Die Lesefähigkeit selbst ist auch keine Frage der Intelligenz. Das trifft allenfalls auf die Bewertung des Gelesenen zu und die verschiedenen Bedeutungsebenen eines Textes. Zunächst werden aber nur die Schriftzeichen im Gehirn in Sprache umgewandelt. Aber schon das ist ein sehr komplexer Vorgang, der für die Lesefähigkeit eines Menschen wichtig ist. Warum manche Kinder leichter und andere schwerer lesen lernen, kann die Wissenschaft heute erst sehr vage beantworten. Da gibt es noch viele offene Fragen. Richtig ist aber, dass viele Kinder heute häufig weniger lesen und schlechter lesen können. Das Lesen mehr zu fördern, ist eine wichtige Aufgabe der Gesellschaft.
Volksstimme: Warum eigentlich? Das Lesen als primäre Form der Informationsübermittlung hat sich doch erst im 19. Jahrhundert entwickelt. Heute steuern wir Kleincomputer mit Gesten. Die übernächste Gerätegeneration wird Sprache verstehen und sprechen - von der Supermarktkasse bis zum Geldautomaten. Neuigkeiten beziehen viele Menschen nur noch über das gesprochene Wort und Bilder via Fernsehen. Geht die Blütezeit des Lesens zu Ende?
Scheich: Das Lesen als besonders kreativer Prozess der Auseinandersetzung mit Informationen könnte in Gefahr geraten. Das liegt in erster Linie an der Bequemlichkeit anderer Medien. Wer passiv unterhalten wird, verzichtet eher auf den aktiven Prozess des Lesens. Und Formen der passiven Unterhaltung und Information nehmen zu.
Volksstimme: Glauben Sie, dass in 200 Jahren noch genauso viel gelesen wird wie heute?
Scheich: Da bin ich mir keineswegs sicher. Die Gefahr, dass das Lesen seinen heutigen Stellwert verliert, ist sehr real. Das gilt sicher weniger für bildungsabhängige Berufe. Aber es ist vorstellbar, dass weite Teile der Bevölkerung in einer solchen Zukunft nicht mehr zwingend auf das Lesen angewiesen sein werden. Und das wird zwangsläufig die Lesefähigkeit der Bevölkerung negativ beeinflussen. Eine schöne Zukunft wäre das aber nicht. Denn das gesprochene Wort kann den geschriebenen Text keinesfalls ersetzen.
Volksstimme: Wieso? Kann nicht ein Gespräch oder eine Rede im Fernsehen den gleichen Inhalt transportieren wie ein Zeitungsbeitrag?
Scheich: Zwischen Gespräch und Artikel gibt es Gemeinsamkeiten, aber auch sehr grundsätzliche Unterschiede. Gemeinsam ist beiden, dass sie Gedanken nachvollziehen können müssen. Und beide müssen fähig sein, Assoziationen und bildhafte Vorstellungen zu wecken. Imagination nennen die Sprachforscher das. Das ist eine wichtige kreative Leistung.
Volksstimme: Und was unterscheidet einen Zeitungsartikel von einer TV-Moderation?
Scheich: Ein Artikel ist mehr ein Konstrukt, eine gestaltete Verbindung verschiedener Stilmittel, die bewusst miteinander in Beziehung gesetzt sind. In diesem Text bilden Gedanken Tatsachen und Meinungen ab. So einen Text - vorausgesetzt, es ist ein guter Artikel - empfindet der Leser fast wie ein Musikstück. Es gibt eine Einleitung, einen Schluss, eine Botschaft.
So ein Artikel erzielt eine völlig andere Wirkung als die unmittelbare sprachliche Rede. Denn er läuft nicht einfach ab wie ein Gespräch, sondern sie können die Lektüre unterbrechen, wieder aufnehmen, an anderer Stelle einsteigen oder eigene Gedanken zum Text in Beziehung setzen. Der Leser bestimmt das Tempo der Verarbeitung. Das Lesen ist ein aktiver Prozess. Das macht den Reiz eines guten Artikels aus. Das Zuhören dagegen ist ein abhängiger und flüchtiger Prozess, der eigene Gedanken dazu nur im Ansatz zulässt. Deshalb sind Talk-Shows intellektuell häufig so unbefriedigend.
Volksstimme: Herr Professor Scheich, wir sprachen unter anderem über den besonderen individuellen Wert einer Nachricht. Erinnern Sie sich, welcher Artikel ihnen jüngst besonders wertvoll war?
Scheich: (überlegt und schmunzelt) Manchmal sind es auch vermeintlich kleine Nachrichten, die Freude machen. So ging mir das beim Artikel, der darüber informierte, dass es vielleicht bald eine Polizei-Reiterstaffel in Sachsen-Anhalt geben wird. Ich als Pferdefreund habe diese Nachricht mit großer Freude und Sympathie aufgenommen.