Rainer Wendt "Ein unkalkulierbares Risiko"
Keiner polarisiert in der Polizei mehr als der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt. Er sieht Deutschland in Gefahr.
Volksstimme: Ein Jahr nach der Flüchtlingswelle ist ein wenig Ruhe eingekehrt. Ist das auch Ihr Eindruck?
Rainer Wendt: Ja, das ist so. Die Diskussion wird jetzt ja auch ganz anders geführt. Der Sicherheitsaspekt spielt jetzt auf einmal auch eine Rolle. Ich habe auch schon immer gesagt, die Masse der Menschen, die bei uns ankommen, ist auf unseren Schutz angewiesen. Es sind aber auch schon einige Verbrecher dabei. Die wollen gar nicht integriert werden oder sich hier einfügen. Sie begehen schwere Straftaten. Und das hat nicht unbedingt etwas mit der Flüchtlingskrise zu tun. Wir beobachten ja das Thema nordafrikanische Intensivtäter seit vielen Jahren. Der Bericht Casablanca in Düsseldorf spricht von 1244 erkannten nordafrikanischen Intensivtätern. Das sind also nicht einfach nur Straftäter, sondern Personen, denen 30 Straftaten und mehr nachgewiesen wurden. Die treiben seit 10 bis 20 Jahren ihr Unwesen und da haben wir noch keine Antwort darauf gefunden.
Mit der Flüchtlingswelle sind ja zahlreiche Menschen ins Land gekommen, die anfangs gar nicht registriert wurden. Ist das Problem jetzt gelöst?
Es geht um hunderttausend Flüchtlinge. Das Problem ist bei Weitem nicht gelöst, auch wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) davon spricht, die Masse der Flüchtlinge nun registriert zu haben. Das heißt aber nur, dass wir die Personalien der Leute aufgeschrieben und sie natürlich auch mit ihren biometrischen Daten festgehalten haben. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass wir sie identifiziert haben. Das liegt daran, dass wir keine Resonanzdaten aus den Herkunftsländern haben. 80 Prozent der Ankommenden haben doch keine Papiere. Wir haben sie also registriert, aber nicht identifiziert. Das ist ein Bedrohungspotenzial in einer unbekannten und unkalkulierbaren Höhe. Nehmen wir den Attentäter von Würzburg. Der war gemeldet, das Asylverfahren lief schon eine ganze Weile, er lebte in einer Pflegefamilie, besaß schon eine Praktikumsstelle, sollte eine Lehrstelle bekommen und erst jetzt nach dem Attentat stellt sich etwas ganz anderes heraus. Er kommt gar nicht aus Afghanistan, sondern möglicherweise aus Pakistan. Das heißt, wir haben weiter ein unkalkulierbares Risiko.
Ist denn wenigstens jetzt sichergestellt, dass diejenigen, die einmal registriert sind, nicht an einer anderen Stelle wieder eine neue Identität annehmen können?
Ja, und zwar dann, wenn die Stellen über die notwendige Technik und das Know-how verfügen. Da müssen die Abfragen möglich sein. Leider sind die Möglichkeiten in den Kommunen nicht überall die gleichen. Auch die IT-Infrastruktur in den Bundesländern ist noch nicht so, wie sie sein soll. Die Lücken werden jetzt überall geschlossen, aber erst, nachdem über eine Millionen Menschen da sind. Das muss man der Politik vorwerfen, dass erst Anfang 2016 ein einheitliches Erfassungssystem zustande gekommen ist. Vorher haben nicht einmal die Bundesbehörden mit dem Bamf kommunizieren können. Da sind Listen per Hand rübergegangen und die haben sie abgeschrieben. Genau daraus ergab sich die Unsicherheit. Wir hatten am Anfang komplett die Kontrolle verloren, sind dabei, sie wieder zu erlangen, haben sie aber noch nicht.
An den europäischen Außengrenzen sorgt die Agentur Frontex auch für die Erfassung der ankommenden Flüchtlinge. Die deutsche Polizei soll dabei helfen. Ist sie dazu überhaupt in der Lage?
Ja natürlich. Das sind ja Bundes- und Landespolizisten, die wir schicken. Bis zu 1500 Leute sollen die 28 EU-Mitgliedsstaaten senden, den Großteil wird natürlich Deutschland stellen. Wir haben dafür Know-how und die Kollegen melden sich auch freiwillig.
Welche Rolle spielt inzwischen Frontex, 1500 Beamte für die europäische Außengrenze dürften doch zu wenig sein?
Die Konstruktion von Frontex war von Anfang an eine falsche. Eine Agentur, die Einsätze nur koordiniert, ist deshalb falsch, weil die Führung einer nationalen Sicherung der Grenze immer noch bei den nationalen Behörden liegt. Eine Polizei, die wirklich wirksam sein soll, die wird nicht koordiniert, die wird geführt. Frontex hätte von Anfang an eine Polizeibehörde mit eigenen operativen Fähigkeiten sein müssen. Wir müssen vermeiden, dass es eine unterschiedliche Qualität von Grenzsicherungen gibt. Die Spanier und die Ungarn machen das übrigens sehr konsequent, die Griechen so lala, so wie die Italiener. Die Nationalstaaten hätten einfach nur sagen müssen, den Außenschutz der europäischen Grenze führt eine Extra-Polizeibehörde. In der Praxis ist das von ganz erheblicher Bedeutung. Es entstehen Zeit- und Reibungsverluste, wenn die Frontex-Einsatzkräfte immer wieder nachfragen müssen: Dürfen wir das?
Voraussetzung wäre dafür aber, dass Frontex vergrößert wird.
Ja natürlich. Die Polizeibehörde müsste dann an die 50 000 Beschäftigte haben. Das ist alles machbar. Man sagt ja auch, dass die Seegrenze nicht gesichert werden können. Natürlich geht das, wenn die Mittel dazu zur Verfügung stehen. Die Folgen des Frontex-Fehlers und die teilweise laschen Kontrollen auch im Schengenraum bekommen wir jetzt jedenfalls zu spüren.
Was sind das für Folgen?
Wir haben ungehindert reisende kriminelle Banden innerhalb Europas und die Polizeistrukturen kommen da nicht hinterher. Wir sind erst jetzt mühselig dabei, den Rechtshilfeverkehr, die Kommunikation unter den Bundesländern zu entwickeln. Wenn wir an die Hintermänner solcher Banden heranwollen, müssen wir wissen, mit wem haben sie kommuniziert, in welchen Ländern wohnten sie, waren aktiv usw. Dieser Informationsaustausch dauert wegen der Bürokratie oft Monate. Erst jetzt versucht man mit zwei Projekten in Bayern und Baden-Württemberg, diese Monate auf wenige Stunden zu reduzieren. Damit hätte man schon vor zehn bis 15 Jahren anfangen sollen. Wir haben in Deutschland außerdem noch eine katastrophale Infrastruktur zwischen den Polizeidienststellen der Länder. Wir sind da in Europa keine Musterknaben. Auch die Strafverfolgung müsste besser werden.
In Ihrem Buch schreiben Sie: Wer einen Staat erleben will, der den Verstoß gegen Regeln hart ahndet, muss falsch parken. Wer einen Einbruch, eine Körperverletzung oder Betrug begeht, kann es gelassen angehen. Ist das nicht übertrieben?
Nein, das ist so. Der Falschparker muss in jedem Fall zahlen und wenn es am Ende nur die Verwaltungsgebühr ist. Wer einen Einbruch begeht und vom Richter wieder mal laufen gelassen wird und wieder einmal Bewährung erhält, der muss gar nichts bezahlen. Der hat, wie in Hamburg erst geschehen, auch nichts zu befürchten. Da muss man den Glauben an den Rechtsstaat ja verlieren.
Sie sagen, das Gewaltmonopol des Staates schmilzt wie Eis in der Sonne. Worauf führen Sie das zurück?
Wenn Leute das Gesetz in die eigene Hand nehmen, sich Bürgerwehren gründen, die Türsteher-Szene die Taschendiebe einfängt und abwatscht. Auch wenn die Zahl der Anträge auf einen kleinen Waffenschein sich vervielfacht, zeigt es, dass der Deal mit dem Staat nicht mehr als erfüllt angesehen wird. Ich gebe mein Recht auf Gewaltmonopol an den Staat ab, der dafür seinen Schutzauftrag erfüllt. An diese Abmachung fühlen sich immer weniger gebunden. Das ist die Gefahr, wenn das so kommt, dann gilt die Macht des Stärkeren und nicht die des Rechtsstaates. Wenn der auch mit veralteter Technik oder maroden Polizeigebäuden daherkommt, ist das Vertrauen auch nicht groß.
2011 haben Sie in Magdeburg die Polizeidirektion Nord zum schlechtesten Polizeirevier Deutschlands gekürt. Waren Sie danach nochmal da?
Ja, es hat sich noch nicht viel getan. In Sachsen-Anhalt ist es mit Ausstattung und Personal ohnehin wie in einer Achterbahn. 2008 gab es hier noch 8500 Polizisten, dann wollte man unter 5000. Das Personalkonzept der Polizei wurde im Landtag vorgestellt vom Präsidenten des Landesrechnungshofes, das war eine sicherheitspolitische Zirkusnummer. Jetzt sind es zum Glück nur 5800 geworden und jetzt will man wieder auf 7000 erhöhen, als ob man im Supermarkt einfach ein paar mehr bestellen könnte. Der Arbeitsmarkt ist hoch umkämpft und wir brauchen gut ausgebildetes Personal. Solche Personalentwicklung halte ich für völlig konzeptionslos. Ich halte es übrigens für fatal, dass dort, wo am meisten Personal abgebaut worden ist, der Ruf nach der Bundeswehr am lautesten ist.
Ist denn der Schritt zu einer gemeinsamen Übung nicht der richtige Schritt?
Doch. Weil im Ernstfall die Bundeswehr mögliche Fähigkeitslücken bei der Polizei schließen kann. Mit einem gepanzerten Sanitätsfahrzeug kann man zum Beispiel auch mal in einen Gefahrenbereich fahren, wer da am Steuer sitzt, ist mir dann völlig egal. Dass so ein Einsatz unter Führung der Polizei stattfindet, ist auch klar. Ich bin mir mit Frau von der Leyen einig, dass die Bundeswehr keine Reservepolizei wird. Es kann nicht sein, dass wir die Landesbereitschaftspolizei immer weiter eindampfen, und wenn Not am Mann ist, holen wir die Bundeswehr. Da wird nichts daraus. So hat es Sachsen-Anhalt ja auch schon mit der Bundespolizei gemacht. Diese sollte ursprünglich nur einspringen, wenn es eng wird. Doch inzwischen ist sie bei Einsätzen bereits fest eingeplant.
Es gibt im Land ja auch permanent Reformen. Kommt die Polizei damit überhaupt noch klar?
Mit Reformen verbindet die Polizei permanent Personalabbau. Das ist in der Regel immer etwas für einen neuen Minister. Der erfindet die Polizei dann immer neu. Das Ziel ist, immer mehr Polizei auf die Straße zu bringen. Ich kenne aber seit 40 Jahren keine einzige Reform, bei der das wirklich funktioniert hat. Das war immer auf dem Papier so. Was die Polizei endlich braucht, ist Kontinuität. Es gibt bei uns schon den lockeren Spruch. Wenn du dein Personal nicht hinter dich bringen kannst, bringe es wenigsten durcheinander. Auch in Sachsen-Anhalt muss jetzt endlich mal wieder Ruhe einkehren.