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Geschichte 107 Stufen hinauf zu Heinrichs Reich

Auf dem Quedlinburger Münzenberg im Harz in Sachsen-Anhalt haben Reisekönige Geschichte geschrieben.

Von Klaus-Peter Voigt 12.10.2019, 23:01

Quedlinburg l Ruhe und Beschaulichkeit herrschen auf dem Quedlinburger Münzenberg. Im Gegensatz zu den alten Gassen und den prächtigen Fachwerkhäusern in der Altstadt erlebt dieses historisch bedeutende Areal einen eher bescheiden erscheinenden Zulauf an Touristen. Daran mögen auch die 107 Stufen schuld sein, die bis dorthin zu bewältigen sind. Für die Mühen des Aufstiegs belohnt ein einmaliger Blick auf die Stadt und das Umland.

Dabei wurde an diesem Ort im frühen Mittelalter Geschichte geschrieben, Ottonische, um es genau zu sagen. Der Schlossberg und der gegenüberliegende Münzenberg nahmen einen hohen Stellenwert bei Heinrich I. und Otto dem Großen ein. Vor mehr als 1000 Jahren hielten sie sich in diesem Teil des Harzvorlandes oft auf. Das Reisekönigstum verlangte die ständige Präsenz der Herrscher in allen Teilen ihres Einflussgebiets. Mit der Krönung Heinrichs zum König der Sachsen und Franken 919 war letztlich der Grundstein für die Entstehung eines deutschen Staates gelegt. Teil des Schlossbergs ist der Finkenherd. Er gilt als der Platz, an dem dem Herrscher die Königswürde angetragen wurde.

986 ließ die erste Äbtissin des Quedlinburger Frauenstiftes auf dem Münzenberg das Marienkloster errichten. Bei der Dame handelte es sich um niemand Geringeren als Mathilde, eine Tochter Kaiser Ottos des Großen. Sie traf die Entscheidung zusammen mit ihrer Schwägerin, der Kaiserin Theophanu. Die Benediktinerinnen sollten an diesem herausragenden Platz die Gebete für das Seelenheil des verstorbenen Kaisers Otto II. übernehmen.

Bis zur Reformation bildete das romanische Gotteshaus auf dem Münzenberg das Gegenstück zur Stiftskirche auf dem Schlossberg. Nach Plünderungen und Unruhen im Zuge von Bauernkrieg und der kirchlichen Veränderungen durch die Reformation begann der Verfall der leerstehenden Gebäude. Zum Ende des 16. Jahrhunderts kamen Kesselflicker, Scherenschleifer, Hausierer und Bettelmusikanten an diesen Platz. Sie errichteten auf den Resten der alten Klöster kleine, eher bescheidene Fachwerkhäuser. Der Berg veränderte sein Gesicht. „Die hier lebenden Menschen galten lange als liederliches Volk“, sagt Frank Sacher, Vorsitzender des Fördervereins Klosterkirche St. Marien auf dem Münzenberg. Über die Jahrhunderte hinweg schien das Gelände in die Bedeutungslosigkeit versunken. Die Holzgefache litten unter mangelnder Erhaltung, zunehmend standen Gebäude leer.

Das Bild, das sich Anfang der 1990er Jahre bot, war eher traurig. Die 60 Fachwerkhäuser krümmten sich zum Pflaster hin, Balken waren verrottet, erzählt Frank Sacher, 1. Vorsitzender des Museumsvereins Klosterkirche auf dem Münzenberg. Vor vier Jahren übernahm er das verantwortungsvolle Amt von Siegfried Behrens. Der Medizinprofessor aus Lemgo in Nordrhein-Westfalen erklomm 1994 den Münzenberg. Aus dem zufälligen Abstecher sollte mehr werden. Ein Film im Fernsehen „Quedlinburg, die kranke Stadt am Harz“ hatte ihn mit seiner Frau spontan in den Osten geführt. Das traurige Bild weckte den Rettergeist in dem Mediziner. Schließlich traf das Ehepaar eine folgenschwere Entscheidung und kaufte kurzentschlossen eines der baufälligen Häuschen. Es zu erhalten war das Ziel. Aus der Idee wurde mehr, der Mediziner packte bei der Sanierung selbst mit an. Im Keller des mittelalterlichen Bauwerks kamen Fundamente der frühromanischen Kirche St. Marien ans Tageslicht.

Nun traten Archäologen auf den Plan, ein Museumsverein wurde gegründet. Man kann durchaus von Eigendynamik reden, durch die ein verborgener Schatz gehoben wurde. Nachbarn unterstützten das Projekt, da die Fundamente sich unter zwölf Gebäuden ausdehnten. Werkstätten und Lagerräume waren zwischen ihnen entstanden. „Als wir anfingen, stießen wir auf klerikalem Boden auf Fahrräder, Einweggläser und alte Möbel“, sagt Siegfried Behrens. Sein Ziel war es, den historischen Ort öffentlich zugänglich zu machen. Durch Häusertausch oder den Kauf von Gebäuden schaffte er es, den Grundriss der Marienkirche wieder „zusammenzufügen“. „Im Verlauf der Zeit konnte Familie Behrens durch Ankäufe, Tausch und Verhandlungen die noch vorhandenen Bereiche der Kirche wieder zusammenführen, so dass jetzt der Erdgeschossbereich des Westwerks, die Ostkrypta, Teile des Mittel- und der Seitenschiffe, die Nonnenempore und die archäologisch mittelalterliche Begräbnisstätte vor dem südlichen Seitenschiff wieder erlebbar sind“, berichtet Frank Sacher.

Das Marienkloster mit Apsis, der Krypta und Teilen des Kirchenschiffs der früheren St. Marienkirche wurde ein Schmuckstück. Große Teile der Kirche befinden sich im Eigentum der Stiftung Klosterkirche St. Marien auf dem Münzenberg, gegründet vom Ehepaar Behrens, in der Deutschen Stiftung Denkmalschutz (DSD). Die Mühen der Arbeiten seit Anfang der 1990er Jahre sind heute kaum noch nachzuvollziehen. Für das starke bürgerschaftliche Engagement gab es 2009 den Romanikpreis der Landes Sachsen-Anhalt, Siegfried Behrens erhielt die Ehrenbürgerschaft von Quedlinburg.

Das Museum auf dem Münzenberg – das einstige Kloster ist seit zwei Jahren Teil der Straße der Romanik, die durch Sachsen-Anhalt führt – lockt jährlich trotz der Strapazen des Aufstiegs im Durchschnitt 16.000 Besucher an. „Wir verzichten auf einen Eintritt“, versichert Frank Sacher. So sollen potenzielle Gäste nicht „verschreckt“ werden und die Spendenbereitschaft der Gäste sei nicht zu vernachlässigen. Für ihn ist die Ostkrypta der Lieblingsplatz im Bauwerk. In ursprünglicher Gestalt und in der Gesamtheit wiedererstanden sei die Farbgebung authentisch wie im 10. Jahrhundert.

Viele Aufgaben im Museum liegen in den Händen der Vereinsmitglieder. Peter Hohlfeld gehört zu ihnen. Eine banale Zeitungsanzeige brachte ihn zum historischen Ort. Schnell habe er Feuer gefangen und sich intensiv mit der Geschichte des Münzenbergs beschäftigt. Inzwischen erklimmt er regelmäßig die lange Treppe, um dann Besucher begrüßen und führen zu können.

Evelin Vollmer aus dem südniedersächsischen Einbeck lockte gleich den Geschichtsverein ihrer Heimatstadt auf das historische Terrain. „Bei unseren Reisen wollen wir Interessantes entdecken, auf historische Spurensuche gehen“, berichtet die einstige Lehrerin. Sie selbst habe den Münzenberg vor geraumer Zeit entdeckt und sich regelrecht in ihn verliebt. Als wieder einmal ein Tagesausflug des Vereins anstand, da warb sie mit Begeisterung und Vehemenz für die Fahrt. Niemand sei von Quedlinburg und dem Areal hoch oben über der Stadt enttäuscht worden.