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Geschichte Der sozialistische Frühling in Magdeburg

Auch im Bezirk Magdeburg sollte der Sozialismus umgesetzt werden. Die Bauern in der Region sollten sich zu einer LPG zusammenschließen.

Von Manfred Zander 08.04.2018, 01:01

Magdeburg l Vor ein paar Wochen zeigte der Mitteldeutsche Rundfunk zu später Stunde einen Kriminalfilm der Defa. „Tanz am Sonnabend“ erzählt von einer Brandstiftung im Dorf Mühlbach, nach der sich der Brandstifter in der Scheune erhängte. Er war tags zuvor der LPG beigetreten, und im Dorf wird gemunkelt, er sei dazu von staatlicher Seite gezwungen worden. Nach einigem Hin und Her findet die Kripo heraus, dass alles ganz anders war: Der in Verdacht geratene Bauer hatte sich nicht selbst erhängt, sondern war von seinem Bruder erschlagen worden. Um die Tat zu verschleiern, täuschte er einen Selbstmord vor und legte einen Brand. Der Täter ist LPG-Gegner. Die Kripo entlarvt ihn zudem als Nazionalsozialisten, da in Mühlbach gefundene Waffen der Wehrmacht und ein Hitler-Bild aus seinem Besitz stammen.

Das entsprach dem Bild, das Ende der 1950er Jahre über jene Bauern vermittelt werden sollte, die sich weigerten, Mitglied einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) beizutreten. Sie wurden kriminalisiert, als Ewiggestrige oder als Feinde des Friedens verunglimpft. Das entsprechende Handwerkzeug bildeten die 1957 eingeführten Strafgesetzparagrafen gegen staatsgefährdende Propaganda, Hetze, und Staatsverleumdung. „Verhinderung von LPG-Eintritten, Brandstiftung und Sabotage in LPG, das sind z. Zt. Formen und Methoden der gegnerischen Elemente auf dem Lande“, formulierte damals der OP-Stab der Bezirksbehörde der Volkspolizei (BDVP) Magdeburg.

Tatsächlich wollten Bauern lediglich ihr Eigentum schützen. „Wir wollen freie Bauern bleiben“, sagten sie. Wilfried Lübeck hat diesen Satz zum Titel eines Buches über LPG-Gründungen und Zwangskollektivierung im Bezirk Magdeburg gewählt. Es erschien innerhalb der Studienreihe der Landesbeauftragten im Mitteldeutschen Verlag.

Eine Fleißarbeit des in Groß Ammensleben beheimateten Autoren. Für das Buch hat er rund 10 000 Archivalien durchforstet, darunter Dokumente der SED-Bezirksleitung, der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit, des Rates des Bezirkes Magdeburg.

Seiner Schilderung des Geschehens im Bezirk Magdeburg vorangestellt ist eine vom Historiker Jens Schöne erarbeitete Übersicht über die Entwicklung der Landwirtschaft von der Bodenreform 1945 bis zum Jahr 1990.

Eine wichtige Ergänzung. Schöne stellt dar, dass die Kollektivierung gewissermaßen die Folge von Ungereimtheiten der Bodenreform war. Der Autor führt an, dass 1949 bereits mehr als 10 000 Neubauern ihre Wirtschaft aufgegeben hatten. Ein fortschreitender Prozess. Bis 1952 sei es lediglich zwölf Prozent der Neubauern gelungen, ihren Betrieb wirtschaftlich zu festigen. „Der Zielkonflikt zwischen der Notwendigkeit einer nachhaltigen Produktionssteigerung und den Negativfolgen der Bodenreform trat immer deutlicher zutage“, schreibt Schöne. 1951 habe die SED den Problemstau „politisch konsequent“ gelöst: „Die Kollektivierung, die weitreichende Umkehrung der zuvor erfolgten Schritte, war die Folge.“

Das ist eine Darstellung, die sich auch mit Zahlen aus dem Bezirk Magdeburg belegen lässt. Wilfried Lübeck schildert es am Beispiel seiner Heimatgemeinde. Dort waren während der Bodenreform etwa 1200 Hektar Land aufgeteilt worden. Von den rund 100 Neubauern verließen aber bis 1950 etwa 40 ihre Wirtschaft. „Da wie alle Bauern auch die Neubauern ein sogenanntes Abgabesoll an den Staat zu erbringen hatten, waren unqualifizierte Neubauern und Flüchtlinge in einer besonders ungünstigen ökonomischem Lage“, erklärt der Autor die Gründe dieser Landflucht. „Sie kannten oftmals die Flurstücke nicht, hatten wenige Kenntnisse über die Leistungen des erhaltenen Viehs und waren nicht mit den örtlichen Besonderheiten vertraut.“

Die frei gewordene Ackerfläche ging in den Besitz der ab 1952 gegründeten landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften über. „Zum 31. Dezember 1952“, schreibt Lübeck, „gab es in der DDR bereits 1815 LPG, die 19 016 ehemalige einzelbäuerliche Betriebe vereinten.“

Doch auch die neuen Genossenschaften erfüllten nicht die Erwartungen. Auch das belegt Lübeck mit Zahlen aus dem Bezirk Magdeburg. 879 LPG gab es im Jahre 1958 zwischen Harz und Havel, der Altmark und dem Zerbster Land. Sie bewirtschafteten 39,1 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche des Bezirkes, lieferten aber lediglich 27 Prozent der Erzeugnisse. Zudem stagnierte die Zahl der LPG-Gründungen und -Beitritte. Ein Umstand, welcher der SED-Führung ein Dorn im Auge war. Die Landwirtschaft des Bezirks war - neben der Schwerindustrie in der Stadt Magdeburg - ein wirtschaftliches Schwergewicht und eine wichtige Geldquelle für den Staatshaushalt. SED-Generalsekretär Walter Ulbricht beorderte im September 1959 den Magdeburger SED-Bezirkschef zur Berichterstattung.

Der aus Österreich stammende und wegen seiner mitunter verhältnismäßig realistischen Einschätzungen war Alois Pisnik bei Ulbricht nicht sonderlich angesehen. Auch dieses Mal wies er auf das Gefälle von Anspruch und Wirklichkeit hin, die schlechte Ausstattung der Maschinen- und Traktorenstationen, die Einzelbauern und Genossenschaften mit Landtechnik helfen sollten. Auch gebe es Widerstand gegen die LPG seitens alteingesessener Bauernfamilien, besonders in der Börde und in der Altmark.

Auch der Vorsitzende des Rates des Bezirkes, Kurt Ranke, beklagte am 5. Februar 1960 in einem Brief an Landwirtschaftsminister Hans Reichelt den ungenügenden Zustand der Technik in den MTS und LPG. „Erwähnen möchte ich hierzu, daß die Ersatzteilschwierigkeiten, wie in den vergangenen Jahren, auch jetzt die Gleichen sind.“

Ungeachtet des Widerstandes und der Materialmängel glaubte die SED-Führung mit Agitation und ein wenig staatlichem Druck die Kollektivierung 1959/1960 abschließen zu können. Die Bezirksleitung der SED schickte im Frühjahr 4000 Agitatoren für zwei Monate aufs Land, um Überzeugungsarbeit zu leisten und den sozialistischen Frühling auf dem Lande wahr werden zu lassen.

Sollte das nicht helfen, hielt man es mit Goethes Erlkönig: „Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt...“ Lübeck dazu: „Was diese Agitatoren nicht schafften, erledigte mit ihren spezifischen Mitteln die Volkspolizei, die Staatssicherheit und die Justiz.“ 1960 seien 107 Strafverfahren abgeschlossen worden, 170 weitere befanden sich noch in Arbeit.

Gründe für Strafen waren schnell gefunden. Lübeck verweist beispielsweise auf einen Bericht des Volkspolizeikreisamtes (VPKA) Schönebeck, in dem an die BDVP gemeldet wurde, „dass im Kreis drei Gerichtsverfahren mit Gefängnisstrafen endeten, da Einzelbauern ihr Soll nicht ablieferten. Bei einem weiteren Verfahren wegen Staatsverleumdung und Hetze sei ebenfalls auf Gefängnis erkannt worden. Der Verurteilte habe zum LPG-Eintritt geäußert: ,Ich gehe erst in die LPG, wenn ich dort soviel verdiene wie die Partei- und Staatsfunktionäre‘“.

Andere Bauern, die sich nicht mehr zu wehren wussten, flüchteten in den Westen.

Am 28. März 1960 meldet die Volksstimme, dass der Bezirk Magdeburg vollgenossenschaftlich sei. In Schönebeck, Klötze und Gardelegen wurde das Ereignis mit Volksfesten gefeiert. In Berlin dürfte man die Nachricht mit Genugtuung zur Kenntnis genommen haben.

Und vermutlich saß man damit einer charmanten Lüge der Magdeburger Genossen auf. Im Vorwort von „Wir wollen freie Bauern bleiben“ erinnert sich Friedrich Schulz aus Jahrstedt, wie die Agitatoren durch sein Heimatdorf zogen: „Die ,Sprücheklopfer‘ luden die Eltern oft zu Versammlungen, Aussprachen und endlosen Diskussionen ein. Am 1. April 1960 war die Familie Schulz schließlich bereit, ,sozialistisch‘ in der LPG zu arbeiten.“

Da war der Bezirk Magdeburg schon ein paar Tage als „vollgenossenschaftlich“ gemeldet worden.