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Geschichte Ein Toter vor dem Haus der Volksstimme

Im April 1919 bewegten Plünderungen und Schüsse auf dem Magdeburger Domplatz die Menschen in Anhalt und der preußischen Provinz Sachsen.

Von Manfred Zander 28.04.2019, 01:01

Magdeburg l Am ersten Tag des Monats war es Brauch, seine Mitmenschen mit kleinen oder größeren Unwahrheiten in den April zu schicken. Auch die Zeitungsmacher hatten sich gern daran beteiligt, ihre Leser an diesem Tag gewissermaßen mit öffentlicher Erlaubnis zu beschwindeln. Der Krieg hatte Aprilscherze aus den Zeitungen verbannt. Auch im ersten Nachkriegsjahr blieb das so.

Auch ohne Aprilscherze wurde häufig zur Presse gegriffen, ob nun zur Schönebecker Zeitung, zur Saale-Zeitung aus Halle, zum Auflagenkrösus Magdeburger General-Anzeiger oder zur Magdeburgischen Zeitung, dem publizistischen Aushängeschild der Provinz. Wer Bescheid wissen und am Stammtisch mitreden wollte, brauchte den täglichen Blick in den Blätterwald.

Das galt nicht nur für den redaktionellen Teil, sondern auch für die Inseratenseiten. Im April erfuhren Volksstimme-Leser beispielsweise, dass sich Dr. med. Gottfried Elz in Gommern als praktischer Arzt niedergelassen habe und im Hotel Fürst Bismarck Sprechstunden abhalte, dass Martha Lattner aus der Morgenstraße 49 in Magdeburg sich als Schneiderin empfehle, dass man sich bei August Albrecht & Co in der Magdeburger Buttergasse 3a Hüte umpressen lassen könne, dass Georg Lässig in der Magdeburger Jakob-straße 17 Zöpfe aus dem Haar seiner Kunden fertige, dass von Rittergut Pabsdorf bei Möckern ein „fleiß., ehrl., älteres ... Mädchen für Hausarb.“ gesucht werde, dass im Lichtspielhaus Panorama der Film „Die Prostituierten ... Die Gefahren der Straße“ laufe, und dass Friseur Zander in der Cracauer Simonstraße 23 einen Friseurlehrling suche.

Ein gewisser A. Schwalbe aus der Magdeburger Kantstraße 1 bot die Möglichkeit, Wohnungswände auf die Höhe der Zeit zu bringen: „Ebert-Scheidemann-Bebel-Liebknecht. Orginalzeichnungen von Max Schiemann, Stück 5 Mark. Ersatz für alle größeren Kaiserbilder.“

Um politischen Bildertausch ging es auch im Staßfurter Tageblatt. Redakteur und Herausgeber Hotteroth empörte sich über einen sozialdemokratisch gesinnten Kunden, der in einem Ladengeschäft verlangt habe, das Bildnis des Kaisers gegen das des Präsidenten zu wechseln. Um für ähnliche Fälle vorzubeugen, gab Hottenroth Argumentationshilfe: Erstens sei das Bild Privateigentum. „Und zweitens ist Kaiser Wilhelm ein schöner Mann mit sympathischen Gesichtszügen, was bekanntlich von dem neuen Präsidenten Ebert keiner behaupten kann. Der sieht mit seinem aufgeschwemmten Gesicht und den dicken Posaunenengelbacken aus wie ein Berliner Weißbierkutscher.“

Ebert wurde fortan Hotteroths Intimgegner. Dazu passt, dass in einigen Jahren – seine Zeitung war da in die Mitteldeutsche Presse übergegangen – der Nachfolger des Tageblattes den Reichspräsidenten mit dem Vorwurf des Landesverrats angreifen und damit den Ebert-Prozess am Magdeburger Landgericht auslösen würde.

Bei diesen Vorwürfen wird Otto Landsberg seinen Freund Ebert juristisch beraten. Im April 1919 war der Rechtsanwalt und frühere Magdeburger Stadtverordnete erster Justizminister der Weimarer Republik.

Am 6. April besuchte Landsberg Verwandte und Freunde in Magdeburg. Zwei Tage später wurde er bei einem Bummel in der Beaumontstraße, der heutigen Erzbergerstraße, von Soldaten erkannt, festgenommen und in die gegenüberliegende Ravensberg-Kaserne gebracht. Vermutlich reagierten USPD und KPD damit auf die Verhaftung des USPD-Stadtverordneten und Gewerkschaftsführers Alwin Brandes in Berlin. Der war nach dem Bekanntwerden von Magdeburger Putschplänen inhaftiert worden. Die Volksstimme berichtete: „Der bisherige Beigeordnete des Polizeipräsidenten Albert Vater (Mitbegründer der KPD-Ortsgruppe Magdeburg, d. Verf.) stellte Landsberg über die Verhaftung Brandes‘ zur Rede ... Er drohte Landsberg, daß er ihn so lange festhalten würde, bis Brandes freigelassen ist.“

Vater bestimmte schließlich, dass Landsberg nach Braunschweig zu bringen sei, das sich damals in der Hand Aufständischer befand. In Helmstedt befreite aber ein Schutzmann und ein Hilfspolizist den Minister. Zwei Jahre später sollte Vater des Hochverrats beschuldigt werden und beging Selbstmord.

In Magdeburg verstopften inzwischen große Menschenmengen die Hauptstraßen. Der Straßenbahnverkehr kam zum Erliegen. USPD und KPD riefen zum Generalstreik auf. In der Saccharinfabrik und anderen Werken wurde die Arbeit niedergelegt. Lebensmittelspeicher wurden geplündert. Auch der Städtische Packhof wurde ausgeraubt. Das Städtische Presseamt sprach von 100.000 Mark Schaden. Am Polizeipräsidium und am Justizpalast gab es Schusswechsel zwischen Soldaten und einer Menschenmenge, die zuvor die Zitadelle erstürmt und Waffen erbeutet hatte.

Die gleiche Gruppe überfiel am 8. April kurz nach 22 Uhr das Geschäftshaus der Volksstimme in der Großen Münzstraße 3. Aber das Gebäude wurde militärisch geschützt. Als die Angreifer abgezogen waren, lag vor dem Gebäude die Leiche des Pioniers Walter Schlemmer aus Buckau. „Der erste Tote im Bürgerkrieg ist vor dem Hause der ,Volksstimme‘ aufgefunden worden“, schrieb die Zeitung am 10. April.

Am 9. Mai hatten Regierungstruppen unter General Maercker eingegriffen. Maercker verhängte den verschärften Belagerungszustand. Dem ersten Toten folgten acht weitere. Auf dem Domplatz und vor der Hauptpost wurde von den Regierungstruppen auf die Menschenmenge geschossen. Wie es dazu kam, blieb unklar.

Ein amtlicher Bericht des Landesjägerkorps sprach davon, dass die Soldaten auf dem Domplatz durch „Beschimpfungen und Hetzereien“ und an der Hauptpost durch Schüsse „aus der gegenüberliegenden Häuserreihe“ gezwungen gewesen seien, „auch ihrerseits das Feuer zu eröffnen.“

Zu all dem wäre es nicht gekommen, schrieb ein Leser an die Volksstimme, „wenn man ... Brandes nicht verhaftet hätte“. Am 15. April war er wieder frei und beschuldigte den Sozialdemokraten Hermann Beims, seine Verhaftung veranlasst und Maercker nach Magdeburg geholt zu haben. Auch wenn Beims in einem Zeitungsbeitrag die Vorwürfe als „samt und sonders unwahr“ bezeichnete, war klar, dass zwischen beiden Stadtverordneten das Tischtuch auf Dauer zerschnitten war.

Das zeigte sich bei der Tagung der Stadtverordneten am 24. April. Als der Stadtverordnete Hähnsen vorschlug, Beims zum Oberbürgermeister zu wählen, beantragte Brandes flugs, das Amt auszuschreiben. Erfolglos. Mit 58 der abgegebenen 68 Stimmen wurde Hermann Beims gewählt. Eine Wahl für die Geschichtsbücher. Erstmals übernahm ein Sozialdemokrat das Oberbürgermeisteramt.