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Geschichte Ein untauglicher Stadtrat in Halle

Seit Sommer 1914 tobte der Erste Weltkrieg. Im August 1918 gab es in Anhalt vor allem Durchhalteparolen.

Von Manfred Zander 26.08.2018, 02:00

Magdeburg l Den fünften Jahrestag des Kriegsbeginns nahmen die Zeitungen der Provinz Anhalt am 1. August zum Anlass für Rückblicke und Durchhalteparolen. Die Volksstimme blickte im Zorn zurück. „Jene Tage, die kurzsichtige und kurzdenkende Menschen mit Jubel begrüßten, (sind) zu den traurigsten, zu den folgenschwersten, zu den verderblichsten in der Geschichte der Menschheit geworden.“

Kaiser Wilhelm II., aus dessen Proklamation das Blatt tags darauf zitierte, ließ keinen Zweifel am Fortgang der Dinge: „Noch wollen die Feinde den Frieden nicht. Darum heißt es weiterkämpfen und wirken, bis die Feinde bereit sind, unser Lebensrecht anzuerkennen, wie wir es gegen ihren übermächtigen Ansturm siegreich verfochten haben.“

Doch schon am 3. August gestand die Presse erstmals ein, dass der deutsche Vormarsch im Westen vorerst zum Stillstand gekommen sei. „Die Hoffnung, daß nach Abschluß des Friedens im Osten ein kurzer Endkampf im Westen die Entscheidung zugunsten Deutschlands und den allgemeinen Frieden bringen werde, hat getrogen“, schrieb am 8. Januar die Volksstimme. Und auch Wilhelm II. wurde kleinlauter: „Unsere Lage ist eine günstige, obwohl wir, das dürfen wir ruhig gestehen, in der letzten Zeit auch Mißerfolg erlitten haben“, sagte er bei einer Rede am 17. August.

Eine Meldung vom 4. August aus Aschersleben zeigte, was der ausbleibende Friede alles zum Problem werden ließ: „Niemand hat mit einer so langen Dauer und mit so vielen Toten gerechnet. Daher kommt es, daß der Ehrenfriedhof sich als zu klein erweist. Das läßt sich jetzt mit Sicherheit sagen, weil jeder sieht, daß der Krieg noch lange nicht zu Ende ist und weil nur noch für ganz wenige Begräbnisstellen Platz ist.“

Die Liste gefallener Magdeburger verlängerte sich am 11. August um einen bekannten Namen. Eine nüchterne Mitteilung des Admiralstabschefs über Kämpfe deutscher Marineflieger mit englischen Kriegsschiffen machte es bekannt: „Unsere Verluste betragen ein Luftschiff, Kommandant Korvettenkapitän d. Res. Proelß, und 1 Flugzeug.“

Proelß war Branddirektor in Magdeburg. Seit 1904 habe er sich als Leiter der Berufsfeuerwehr um das städtische Feuerwehrwesen und um das Sanitätswesen verdient gemacht, hieß es in einem Nachruf.

Am 24. August suchten die Leser der Volksstimme vergeblich nach der sechsten Folge des Fortsetzungsromans. „Wegen der Papierknappheit können wir leider auch heute, trotz des großen Stoffandrangs, nur sechs Seiten bringen“, erklärte die Redaktion. Alle Zeitungsverlage beklagten die Papierknappheit.

In vielen anderen Lebensbereichen waren längst Ersatzstoffe gefunden worden. Erst jüngst wurde die Möglichkeit gefeiert, aus Kohle Spiritus zu fertigen. „Ersatz ist jeder Happen, / Ersatz ist jeder Schluck, Ersatz ist jeder Lappen, Ersatz ist jeder Schmuck“, hieß es in einem Zwölfzeiler, den die Volksstimme erst vor wenigen Tagen abgedruckt hatte.

Manch windigem Gesellen eröffnete die Knappheit und die Suche nach Ersatz ein einträgliches Geschäftsfeld. In Gröningen stahlen beispielsweise einige polnische Arbeiter in der Zuckerfabrik Säcke. Daraus fertigten sie Hemden, Blusen und Unterröcke. „Hemden und Blusen aus Säcken! Auch ein Zeichen der Zeit“, spottete die Volksstimme nachdem die diebischen Kreativen in polizeilichem Gewahrsam waren.

Schlimmer dran als die Trägerinnen der Blusen aus Zuckersäcken waren die gutgläubigen Käufer eines neuen Kaffee-Ersatzes. Bei näherer Untersuchung erwies der sich nämlich als Erzeugnis aus gemahlenem verfaulten Holz. Der Genuss dieses Getränks endete in Erbrechen.

Dagegen war es längst rechtens, wenn die Hersteller von Zigaretten und Zigarren für die Glimmstengel das Laub heimischer Bäume nutzten. Am 15. August erweiterte der Bundesrat die Ersatzmöglichkeiten sogar noch um die Blätter der Birnen-, Apfel-, Walnuss- und Haselnussbäume. „Es scheint uns bald“, kommentierte die Volksstimme den Beschluss, „als ob die Blätter aller Bäume und Sträucher ,rauchbar‘ sind“.

Das Blatt berichtete über eine Brotuntersuchung in Leipzig, bei der Mäuse, Flachsfasern, Watte, Lysol, Papier, Holz, Stroh, Gips, Kreide, Holzsplitter, Sand und der Grünspan von Kupfer als Zugaben entdeckt worden waren.

Mitte August veröffentlichte die Ersatzlebensmittelstelle des Kriegsernährungsamtes eine Liste mit 700 für die Lebensmittelerzeugung verbotene Ersatzmittel.

Am 19. August stellte die erste von drei bis Ende Oktober verordneten fleischlosen Wochen viele Hausfrauen vor eine neue Herausforderung. „In diesen Zeitabschnitten darf kein Fleisch an die versorgungsberechtigte Zivilbevölkerung ausgegeben werden“, erklärte die Volksstimme.Nur wer unrationiertes Geflügel und Wild kaufen könne, habe keine fleischlosen Wochen“.

Einer dieser Glücklichen fuhr am 22. August im Jagdwagen die Schönebecker Straße in Magdeburg entlang, beide Seiten des Wagens mit seinen Jagdtrophäen – etwa 40 Rebhühnern – geschmückt. Vielleicht genoss er die vielen neidvollen Blicke der Passanten.

Instinktlosigkeit witterte die Volksstimme in der Eröffnung eines Wein-Kabaretts im Spiegelsaal des Magdeburger Kaffeehauses Hohenzollern. Vom 17. bis 31. August sorgten Friedel Scholz, Erna Alberti, Else Ward, Lotte Kauer, Willi Wacker und der Humorist Willi Karzin dort für heitere Stunden. „Diese neue Vergnügungsstätte ... befriedigt ein tiefgefühltes Bedürfnis der Kriegsgewinner kleinen und mittleren Grades“, ätzte ein Redakteuer – und übersah geflissentlich die Einnahmen des Verlages Pfannkuch aus der im Inseratenteil gedruckten Werbung für das „Bedürfnis der Kriegsgewinner“.

In der Saalestadt Halle missachteten die Stadtväter auf andere Weise die Zeichen der Zeit. In nichtöffentlicher Sitzung veranlassten Stadtverordneten und Magistrat Stadtrat Dr. Hauswald zur Niederlegung seines Amtes. „Der Genannte hat sich für die Tätigkeit in der Stadtverwaltung nicht geeignet erwiesen“, erfuhren die halleschen Zeitungen. Das Ausscheiden wurde Hauswald mit 75.000 Mark aus der Stadtkasse versüßt, ganz so, wie dem kurz zuvor aus gleichem Grund gegangenen Stadtbaurat Dr. Zachariä.

Für solche Summen mussten andere lange arbeiten, etwa die 509.945 männlichen und 259.061 weiblichen Arbeiter der deutschen Rüstungsindustrie. Deren Einkünfte für das Jahr 1917 hatte der Metallarbeiterverband gerade veröffentlicht. In Mitteldeutschlands Rüstungsbetrieben arbeiteten die meisten der Männer und Frauen für Stundenlöhne zwischen 20 und 125 Pfennigen.