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Geschichte Erinnern auf Jüdischem Friedhof in Magdeburg

Seit 20 Jahren engagiert sich Regina Rehländer auf dem Israelitischen Friedhof in Magdeburg. Sie bietet auch Führungen an.

17.11.2019, 00:00

Magdeburg l Regina Rehländer hat gerade eine große, rechteckige Karte vor sich ausgebreitet. Viele kleine, schraffierte Kästchen sind darauf zu sehen. Es ist ein Lageplan des Israelitischen Friedhofs am Fermersleber Weg im Süden Magdeburgs. Jedes einzelne Kästchen steht für eines der Gräber auf dem im Jahr 1816 errichteten Friedhof. Schraffiert bedeutet dokumentiert. Viele weiße Stellen gibt es nicht.

Was vor allem dem großen Engagement von Rehländer zu verdanken ist. Vor 20 Jahren begann hier eine Gruppe unter ihrer Führung, die Geschichte der jüdischen Begräbnisse aufzuarbeiten. Eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, viele Gemeindemitglieder halfen mit. Eine Ausbildung im Bereich Denkmalpflege? „Die hatte bei uns niemand, wir mussten uns alles selber beibringen“, sagt Rehländer.

Die Frau mit der modischen schwarzen Brille und den grazilen Händen trägt einen großen Ordner mit sich herum. Darin zu finden: Fotos aus der Anfangszeit, von Frauen, die am Boden sitzen und mit kleinen Spachteln vorsichtig Inschriften freilegen oder Unkraut zupfen. Papierschnipsel kleben an den Rändern einzelner Dokumente, darauf kleine Notizen. Bloß kein Detail vergessen. Wenn Rehländer mal nach einem Wort sucht, überlegt sie solange bis es ihr einfällt. Gründlich. Gewissenhaft.

„Immer nur eine Spatentiefe durften wir graben, nicht mehr. Sonst hätten wir etwas zerstören können“, sagt sie. Auch der Denkmalschutz sei ab und zu da gewesen, um zu überprüfen, ob sie und ihre Mitarbeiter alles nach Vorschrift machen. „Einige wenige Gräber durften wir auch sanieren.“ Mit ihrer ernsten Miene vermittelt Rehländer den Eindruck, diese Vorgabe in all den Jahren auch nie missachtet zu haben. Wer Respekt für jüdisches Leben und die Aufarbeitung seiner Geschichte sucht, ist bei Rehländer gut aufgehoben. „Sie ist ein großer Glücksfall für uns. Ihr Engagement über all die Jahre kann man gar nicht genug würdigen, wir sind dafür sehr dankbar“, sagt Wadim Laiter, Vorsitzender der Synagogen-Gemeinde zu Magdeburg.

Das gilt auch für Hobby-Restaurator Lutz Kaufmann. Der Rentner restauriert immer wieder auf eigene Faust Denk- und Grabmäler in Magdeburg. Zuletzt hat er dafür gesorgt, dass die Namen von 28 jüdischen Soldaten wieder lesbar sind, die auf einem Mahnmal für Gefallene des Ersten Weltkriegs auf dem Friedhof stehen. „Wir sind ihm sehr dankbar für seine Arbeit, er macht das alles freiwillig“, sagt Laiter.

Auch Rehländer findet nach der Jahrtausendwende, als die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nicht weiter gefördert wird, einen anderen Weg, ihr erworbenes Wissen zur jüdischen Grabstätte weiterzugeben. Seitdem bietet sie Führungen im Auftrag der Volkshochschule Magdeburg an.

Und es gibt einiges zu erzählen. Als Rehländer und ihre Mitstreiter vor 20 Jahren ihre Arbeit aufnehmen, ist der Friedhof in einem schlechten Zustand. Unkraut hat sich breitgemacht, viele Gräber sind aus Sandstein und dementsprechend verfallen. Mit einer Kopie des Sterberegisters und wenigen einfachen Werkzeugen beginnt die Arbeit. „Wir haben jeden einzelnen Grabstein vorsichtig freigelegt und versucht, die Grabnummer zu entziffern“, sagt Rehländer. So konnten die Begräbnisse den Personen zugeordnet werden.

Zusammen mit einer Mitarbeiterin begann Rehländer den Friedhof zu vermessen. Jedes einzelne Grab, jede Einfassung. Jede Inschrift wurde dokumentiert, ebenso etwaige Besonderheiten. „3121 Grabsteine und die dazugehörigen Personen haben wir ermittelt“, sagt Rehländer. „Das war enorm viel Arbeit, aber wir hatten auch viel Spaß“.

Ihr Wissen zu jüdischen Grabstätten hat sie aus alten Dokumenten der Gemeinden oder vom ehemaligen Magdeburger Gemeinderabbiner Benjamin David Soussan, der den Arbeitern einmal wöchentlich alle Fragen beantwortete. Vor allem deshalb wichtig, weil der Israelitische Friedhof einige Besonderheiten birgt.

Im frühen 19. Jahrhundert errichtet, findet um 1864 auch eine Trauerhalle auf dem Gelände Platz. Gewächshäuser folgen, werden aber später wieder abgerissen, weil der Platz eng wird. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird eine Friedhofsmauer gebaut, die noch heute dafür sorgt, dass die Grabstätte von außen unscheinbar wirkt und viele Magdeburger hier im Süden gar nicht wissen, dass nebenan ein großes Stück jüdischer Geschichte liegt.

In der Regel werden Juden mit den Füßen gen Osten, in Richtung Jerusalem, begraben. Da die Grabstätte am Fermersleber Weg aber eine besonders starke, rechteckige Form hat, wurden Juden hier in Nord-Süd-Richtung begraben. Während viele andere jüdische Friedhöfe zur Nazi-Zeit komplett zerstört wurden, blieb der Israelitische Friedhof verschont. „Aber hier, schauen Sie mal, dort an der Wand, da erkennt man noch den Bombeneinschlag, den es dann im Zweiten Weltkrieg gegeben hat“, sagt Rehländer und zeigt mit weit geöffneten Augen Richtung Friedhofsmauer. Noch immer ist der schwarze Ruß erkennbar, einzelne Mauerteile fehlen.

Hier auf dem ersten von drei Feldern stehen Gräber, die bis 1899 errichtet worden sind. Es sind vor allem Kindergräber. Bis zu 28 Kinder seien früher pro Reihe bestattet worden. „Es war ein Zentralfriedhof, hier wurden also auch Menschen aus Osterburg, Haldensleben und anderen Städten drumherum beerdigt“, erzählt Rehländer.

Auf Blumenschmuck verzichten Juden, stattdessen werden Gräber mit Steinen und Efeu bedeckt. Und ein Gang über den knapp 1,5 Hektar große Friedhof zeigt auch die Entwicklung bei den Grabsteinen. Während das Feld eins im vorderen Teil vor allem aus schlichten, kleinen Steinen besteht, findet man im hinteren Teil und überwiegend auch auf dem Mittelfeld teils große, säulenförmige Grabsteine und viele Obelisken.

Beim Gang über den Friedhof wird man als Besucher unweigerlich mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte konfrontiert. Auch deshalb ist Rehländers Engagement so wichtig. Sie leistet ihren Beitrag, wenn es um das „Nicht vergessen“ geht, worüber viele mit Blick auf den Nationalsozialismus reden, aber nur wenige etwas dafür tun. Doch hier am Fermersleber Weg wird man mit den Grabsteinen an die Juden, die im Warschauer Ghetto ums Leben kamen, die in den Konzentrationslagern ermordet wurden, konfrontiert.

Rehländer steht gerade im dritten Feld des Friedhofes. „Oh nein, das sieht aber nicht gut aus hier“, sagt die Rentnerin und geht zu einem umgestürzten Grabstein. Die Witterung hat ihre Spuren hinterlassen. Rehländer berührt das ehrlich. Sie steht nur wenige Meter vom Grabstein der Familie Blumenfeld entfernt. Viele Mitglieder der großen Familie, die ihr Zirkusunternehmen bis zur großen Weltwirtschaftskrise Ender der 1920er Jahre erfolgreich führte, wurden im Holocaust ermordet.

Am Ende des dritten Feldes angekommen, breitet sich vor uns ein kleines Stück freie Fläche aus. „Viele Plätze sind hier bereits reserviert“, sagt Laiter. Der Platz ist begrenzt. Denn während christliche Gräber nach Ablauf der Ruhefrist eingeebnet werden können, ist das im Judentum streng verboten. Jüdische Gräber bleiben für die Ewigkeit.

Führungen über den Jüdischen Friedhof in Magdeburg können hier gebucht werden.