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Geschichtsserie Der Kartoffelkrieg

Was bewegte vor 100 Jahren die Menschen in Anhalt und Sachsen, aus denen Sachsen-Anhalt hervorging? Heute: Oktober 1919.

12.10.2019, 23:01

Immer wieder mal brachte sich der Krieg in Erinnerung. Und sei es nur über eine Todesanzeuige mit dem Eisernen Kreuz. Noch vor einem Jahr füllten sie zu Dutzenden die Zeitungsseiten. Diese aber stand einsam zwischen all dem Wichtigen und Unwichtigen, das Inserenten den Lesern mitzuteilen hatten.

Am 5. Oktober zeigte Berta Aumann aus Burg „allen Freunden und Bekannten in tiefem Schmerz an“: „Nach einem Jahr banger Ungewißheit erhielt ich die traurige Nachricht, daß mein über alles geliebter Mann, mein einziges Glück, unser guter, unvergeßlicher Sohn und lieber Bruder, Schwager und Onkel, der Zuschneider Gustav Aumann, Gefreiter im Infanterie Regiment 458, 5. Kompanie, Ritter des Eisernen Kreuzes, im blühenden Alter von 30 Jahren am 9. Oktober 1918, nachmittags um 4 Uhr, in den Kämpfen um Romagne durch Herzschuß dem grausigen Völkermorden zum Opfer gefallen ist.“

Berta Haberland war bereits länger Kriegerwitwe. Seit August wohnte auch sie in Burg. Zuvor hatte sie in Obergütter gelebt und beim Gutsbesitzer Köhler gearbeitet. Als Deputat erhielt sie ein Stück Kartoffelacker. Als sie davon Gebrauch machte und Kartoffeln geerntet hatte, verbot ihr dies Gutsinspektor Schröder. Kartoffeln roden dürfe sie nur mit Genehmigung des Gutsbesitzers. „Treffe ich sie bei diesem groben Diebstahl an, so werde ich sie der Kriminalpolizei stellen oder Sie so körperlich mißhandeln, daß Sie auf dem Kartoffelacker liegen bleiben“.

Besonders die Städte litten unter der Kartoffelnot. Am neuen Wohnort der Witwe Haberland drohte sich die Kartoffelversorgung - wie die Volksstimme es nannte – „zu einer Kalamität auszuwachsen“. Die Erzeuger würden glauben, mit dem festgesetzten Höchstpreis nicht auskommen zu können. Die Zeitung empfiehlt: „Die schärfsten Maßnahmen müssen ergriffen werden, um die Versorgung der Einwohnerschaft mit Kartoffeln sicherzustellen“.

Zunehmend mündete die Not in einen Kartoffelkrieg. „Große Mengen Lebensmittel werden aus dem Kreise Jerichow I besonders nach Magdeburg geschleppt und zu Wucherpreisen abgesetzt“, klagte die Volksstimme. Bei einer Kontrolle auf einer Zufahrtsstraße zur Provinzhauptstadt seien auch 86 Zentner Kartoffeln beschlagnahmt worden.

Der Kreis Wolmirstedt-Neuhaldensleben erließ im Oktober ein Kartoffelausfuhrverbot. Das mache jede Ausfuhr unmöglich, erklärten Meitzendorfer Bauern gegenüber der Presse. „Auch die bereits ausgestellten Kartoffelbezugsscheine der Stadt Magdeburg dürfen nicht mehr beliefert werden.

Die Magdeburgische Zeitung berichtete am 12. Oktober, dass auch die Kreise Jerichow und Wanzleben die Kartoffelausfuhr gesperrt haben. Die Verantwortung würden die sozialdemokratischen Landräte tragen. Sie seien „großstadtfeindlich“.

Das wiederum mochte die sozialdemokratische Volksstimme nicht unwidersprochen lassen. „Das keine Großstadtfeindlichkeit ... vorliegt, ist selbstverständlich.“ In anderen Großstädten sei der Kartoffelmangel „erheblich größer als in Magdeburg“. Man solle doch die Gründe der Verbote mitteilen. „Die Bevölkerung aufzuklären ..., das soll ja angeblich Aufgabe des Presseamtes sein“. Da passte es gut, dass das Presseamt eine bürgerliche Enklave im SPD-geführten Rathaus war.

Für einen kurzen Augenblick wurde der Blick von Versorgungsnöten abgelenkt. Am 18. Oktober wurde in der Wolfenbütteler Straße in Sudenburg eine Frau umgebracht. Martha Kleinau war ehrenamtliche Kassiererin des Metallarbeiterverbandes und wollte beim Dreher Wilhelm Hirschfeld den Beitrag kassieren. Hischfeld und der Monteur Paul Oelze wurden als Täter benannt. Beide fanden 18 Mark in der Tasche ihres Opfers. Hirschfeld vergiftete sich, Oelze wurde am 25. Oktober gefasst.

Gemordet wurde im Oktober auch in Halberstadt, Salzwedel und nochmals in Magdeburg. Aus Gier und Eifersucht. Der Krieg schien den Wert eine Menschenlebens verringert zu haben.

Aus Sicht der anhaltischen Regierung galt dies auch für die Sitten. Sie beauftragte die Polizeibehörden des Landes, gegen „anstößige Filme“ vorzugehen. Viele aufgeführte Filme würden gegen die guten Sitten verstoßen und die heranwachsenden Jugend gefährden.

Einen Seitenhieb auf die größeren Nachbarn verkniffen sich die Dessauer nicht: „Auch in Magdeburg wäre es angebracht, wenn das Polizeipräsidium den Kinos etwas auf die Finger sehen würde.“

Aber dort hatten sich längst Sittenwächter zu Wort gemeldet. „Der Magdeburger Lehrerverein erblickt in dem starken Anschwellen verderbenbringender Schundliteratur und in dem Überhandnehmen sinnereizender Lichtbildervorführungen ... eine Gefahr für die die heranwachsende Jugend“, tadelte der Verband.

Die Kritik an den Filmen galt vor allem den Zirkus-Lichtspielen im Gebäude vom Circus Blumenfeld. Die Kinobetreiber Lembke und Severin führten Aufklärungsfilme auf. „Prostitution. Die sich verkaufen“ war einer der Oktober-Titel. Ein anderer „Ruhm und Frauengunst“ oder „Göttin, Dirne und Weib“.

Das füllte den Kinosaal. Aber nicht immer mit dem gewünschten Publikum. Mit einem Großinserat in der Presse wehrten sich die Kino-Inhaber: „Anmaßenden Tones wurden wir mehrfach durch anonyme Drohbriefe aufgefordert, die Aufführung sogenannter Aufklärungsfilme zu unterlassen und stellte man uns bei Nichtbeachtung ,Generalmaßregeln‘ in Aussicht. Tatsächlich versuchte auch eine ‚Anzahl jugendlicher Personen ... die Vorführung des Films ,Prostitution‘ durch Lärmen ... zu stören.“ Für die Zukunft seien Maßnahmen gegen solche Störungen getroffen worden.

Auch im Magdeburger Rathaus wurde gestritten, wenn auch in gedämpfterem Ton. Zur Abstimmung stand der Neubau der Reichsbankfiliale. Ursprünglich sollte die Filiale in der Großen Münzstraße einfach erweitert werden. Nun aber wollte die Reichsbank den großen Wurf und hatte zwischen Dom- und Oranienstraße ein Grundstück erworben.

Das sei ein Vertragsbruch der Reichsbank, wetterte der Stadtverordnete Moritz von der Rechtspartei. Und bekam umgehend Kontra. „Magdeburg muss ein Reichsbankgebäude haben, das der Zukunft genügt“, sagte Oberbürgermeister Beims. Ein Nein der Stadt würde die Banker abwandern lassen. „Das muß vor allem verhütet werden, wenn man bedenkt, daß durch den Mittellandkanal Magdeburg die Zentrale der Binnenschiffahrt wird.“ Die Pläne der Reichsbank wurden abgesegnet.

Mit dem Mittellandkanal hatte Beims das zweite wichtige Zukunftsprojekt für Magdeburg angesprochen. Noch wurde über die Linienführung gestritten. Auch in der 108. Sitzung der Nationalversammlung am 25. Oktober. „Was die Wasserstraßen angeht, halte ich für die Fortführungs des Mittellandkanals (von Hannover Richtung Osten, d. Verf.) die Südlinie für richtig“, rief der DDP-Abgeordnete Karl Georg Zöphel den Abgeordneten zu. „Die Vorarbeiten für den Mittellandkanal von Hannover bis Magdeburg sind abgeschlossen“, hatte der Zentrumspolitiker und Reichsverkehrsminister Johannes Bell ein Totschlagsargument zur Hand.

Doch ganz so war es noch nicht. Der Streit, ob der Kanal südlich oder nördlich von der Stadt oder auf der gewünschten Mittellinie nach Magdeburg führen sollte, war noch nicht entschieden. Bei einer Beratung am 28. Oktober im Preußischen Abgeordnetenhaus trugen die Anhänger der verschiedenen Streckenführungen ihre Ansichten vor. Dabei gab der namhafte Professor für Wasser, See- und Hafenbau, George Henry de Thierry, den Magdeburgern Schützenhilfe: „Die vielen Millionen, die die Stadt Magdeburg in ihre Hafenanlagen und Preußen in die Anlagen des Verschiebebahnhofs Rothensee hineingesteckt haben, wären bei dem Bau der Südlinie (sie sollte zwischen Schönebeck und Magdeburg in die Elbe führen, d. Verf.) nutzlos ausgegeben.“

Magdeburg schien im Ringen um den Kanalanschluss gute Karten zu besitzen.