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Gespräch Warum Corona im Osten weniger wütet

Die Infektionszahlen sind im Osten verhältnismäßig gering. Warum ist das so? Maria Kurth sprach mit Präventionsforscher Hajo Zeeb.

11.05.2020, 23:01

Herr Zeeb, ein Gedankenspiel vorab: Mecklenburg-Vorpommern – das Bundesland mit den derzeit geringsten Infektionszahlen bundesweit – ist ein beliebtes Reiseland. Nehmen wir an, die Pandemie hätte Deutschland im Sommer erreicht. Wäre Mecklenburg-Vorpommern dann jetzt eher ein Corona-Hotspot?

Das is eine gute Frage. Auszuschließen ist das nicht. Gerade die Strandregionen sind im Sommer stark frequentiert, insofern hätte das durchaus passieren können. Ich hätte dann gehofft, dass die Aufmerksamkeit da eine andere gewesen wäre als zum Beispiel im Januar in Winterski-Gebieten und dass man in Mecklenburg-Vorpommern weisere Entscheidungen getroffen hätte. Wie wir heute wissen, ist in den Wintersport-Regionen einiges schiefgelaufen.

Stichwort, weise Entscheidungen. Zum 25. Mai soll in Mecklenburg-Vorpommern das Einreiseverbot für Touristen aufgehoben werden. Zu früh oder angemessen?

Das halte ich für in Ordnung. Wir müssen uns alle daran gewöhnen, dass die Verantwortung von offiziellen Stellen und Behörden vermehrt wieder an uns selber zurückgegeben wird. Einfach ausgedrückt: Die Bevölkerung trägt jetzt die Verantwortung. Dennoch gilt es, ein gutes Verhältnis zu finden zwischen beschlossenen Regelungen und der eigenen Aufmerksamkeit und Vorsicht. Diese Balance wird jetzt entscheidend sein.

Länder haben zuletzt vermehrt eigenmächtig Lockerungen beschlossen. Ein logischer und richtiger Schritt mit Blick auf die Ausbreitung des Virus?

Ich unterstütze diese Vorgehensweise, weil wir regional große Unterschiede haben. Das führt dann aber eben auch dazu, dass Menschen auf Grund der vielen unterschiedlichen Regelungen zum Beispiel an Ländergrenzen plötzlich verunsichert sind. Aber das müssen wir hinnehmen und vielleicht müssen wir auch erstmal lernen, damit umzugehen.

Auffällig ist, dass die fünf ostdeutschen Flächenländer verhältnismäßig geringe Infektionszahlen haben. Gibt es eine Ursache, an der man diese Entwicklung festmachen kann?

Da kommen viele Dinge zusammen. Es gibt die Ballungsgebiete, die es eben in den ostdeutschen Ländern weniger gibt, dort dominieren ländliche Strukturen. Allein das macht einen großen Unterschied. Dementsprechend ist auch die Bevölkerungsstruktur eine andere. In den fünf Ländern gibt es weniger junge Reisende, die zu Beginn der Pandemie unterwegs waren. Und das ist eben die Bevölkerungsgruppe, die zu Beginn maßgeblich das Virus mit nach Deutschland gebracht hat. Ich will aber nicht ausschließen, dass auch die schnellen Reaktionen auf die Ausbreitung des Virus in den östlichen Bundesländern gut waren. Das alles zusammen hat ein günstiges Bild ergeben und man kann nur froh und stolz sein, dass es so ist. Folgerichtig kann man jetzt etwas früher mit den Lockerungsmaßnahmen beginnen. Sachsen-Anhalt ist relativ weit vorn und man kann sagen, ja, das ist die Reaktion, die man sich jetzt erlauben kann.

Andererseits leben in Sachsen-Anhalt, so wie in den anderen ostdeutschen Bundesländern auch, die meisten über 65-Jährigen. Die Risikogruppe. Ist das nicht fahrlässig?

Ja, das bereitet mir grundsätzlich durchaus auch Sorgen. Aber auch hier gilt: genau hinschauen. Nicht alle über 65-Jährigen sind grundsätzlich gefährdeter, denn es gibt viele Ältere, die noch sehr fit sind und damit das gleiche Risiko haben wie andere Altersgruppen.

Sie haben die Bevölkerungsstruktur als möglichen Grund genannt. Wie erlären Sie dann, dass zum Beispiel Bremen, ein Stadtstaat mit höher Bevölkerungsdichte, ebenfalls niedrige Infektionszahlen aufweist?

Ich kann es nicht erklären, um ehrlich zu sein. Das zeigt eben wieder, dass mehrere Dinge eine Rolle spielen und zusammenkommen. Gerade bei einer Infektion kommt es zu Beginn auf Kleinigkeiten an. Wenn zu Beginn der Ausbreitung nur wenige Personen mit einer hohen Viruslast in einer Region sind, dann kann das auch einen großen Unterschied in großen Populationen machen bzw. in Gebieten, wo viele Menschen auf engerem Raum zusammenleben. Aber wenn plötzlich ein paar hundert Leute aus einem Krisengebiet zurückkommen, dann ist das bei einer Virusinfektion tatsächlich entscheidend. Das kann dann zu solchen Unterschieden führen. Und vor allem: Diese Unterschiede bleiben dann bestehen. Beim exponentiellen Wachstum kommt es darauf an, wie der Start verläuft. Das macht viel aus. Da wird man noch einiges untersuchen können und Zusammenhänge erforschen, die wir jetzt noch gar nicht sehen.

Klar ist: Der Wintersport-Ort Ischgl und die Reiserückkehrer von dort waren ein zentraler Grund für die Virusausbreitung. Nun kann sich nicht jeder einen Winterurlaub leisten. Sind die Unterschiede bei den Infektionszahlen auf Länderebene also auch mit sozioökonomischen Aspekten zu erklären?

Das wäre eine meiner Thesen. Damit sollte man aber auch nicht zu weit gehen. Von Bayern und Baden-Württemberg ist Ischgl schnell und einfach zu erreichen, aber Menschen wie wir hier im Norden gucken vielleicht eher in andere Regionen oder fahren einfach nicht ganz so häufig in den Winterurlaub. Das war in diesem Fall einfach eine ungünstige Situation für die genannten Länder. Und ja, das hat auch etwas mit Einkommen zu tun. Es ist nun mal so, dass es ein Gefälle beim Einkommen gibt zwischen den ost- und westdeutschen Bundesländern. Winterurlaub ist auch nicht einer der günstigeren Urlaube, das hat schon eine Rolle bei der Virusverbreitung gespielt.

Lassen Sie uns kurz den Blick noch ein bisschen weiter gen Süden richten: In Afrika stellen die über 49-Jährigen weniger als zehn Prozent der Bevölkerung. Bisher sind die Infektionszahlen dort überschaubar. Könnte das ein Hinweis darauf sein, welchen Einfluss Demographie auf die Ausbreitung eines Virus hat?

Es wird interessant sein, sich das anzuschauen. Andererseits muss man mit Blick auf diese aktuelle Situation sagen: da kommt noch was nach. Insbesondere ist ziemlich unklar, wie sich der Virus tatsächlich in der Bevölkerung verteilt. Aber es stimmt, die Risikogruppe wie hier in Deutschland, gibt es dort nicht in gleichem Ausmaß. Eine junge Bevölkerung birgt aber auch Chancen für das Virus, schnell Dynamik zu enwickeln. Sichtbar ist das bisher noch nicht, bis auf Südafrika. Dort wurde aber schnell sehr drastisch reagiert. Wir sehen momentan geringe Zahlen in Afrika, aber machen wir uns nichts vor, in vielen Ländern wird auch nicht so getestet wie bei uns. In einigen Ländern herrscht zudem gerade Malaria-Zeit und es ist schwer, einen Unterschied zu treffen zwischen vorherrschenden und neuen Erkrankungen. Die Dunkelziffer und die Unsicherheiten mit Blick nach Afrika, aber auch andere südliche Kontinente, sind derzeit noch riesengroß.

Die zweite Infektionswelle wird uns härter treffen – eine These, der sie zustimmen würden, oder ist das Schwarzmalerei?

Ich möchte da tatsächllch nicht schwarzmalen, weil das Malerei wäre, ohne auf die Fakten zu schauen. Grundsätzlich muss man aber sagen: Rund 95 Prozent der Bevölkerung war bisher noch nicht in Kontakt mit dem Virus und all diese Menschen können noch erkranken. Das muss man sich immer wieder ins Gewissen rufen. Und daran ändert sich nichts, nur weil wir vielleicht gut reagiert haben und jetzt wieder Lebensbereiche öffnen. Es kann sein, dass wir jetzt in noch viel größere Probleme kommen, wenn wir diesen Verlauf nicht sehr vorsichtig beobachten und schnell gegenlenken, sollten die Zahlen wieder steigen. Das ist auch das Spannende für die Bevölkerung, jetzt zu sehen, wie wir das hinkriegen können. Keiner will zurück in den Lockdown.

Unser normaler Alltag ist also noch weit weg?

Da bin ich mir sicher, ja.