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Giersleben Ein Ort will Europas schönstes Dorf werden

Die Zeiten sind keine leichten für kleinere Orte: Giersleben im Salzlandkreis zeigt, wie Gemeinden sich mit findigen Ideen behaupten können.

Von Alexander Walter 01.08.2020, 12:38

Giersleben l Peter Rietsch lässt schon am Telefon keinen Zweifel daran, dass sein Giersleben eine echte Nummer ist. Eine Geschichte über den Wettbewerb zum schönsten Dorf Europas? – „Das sind wir doch längst“, sagt der Bürgermeister.

Es dauert eine Sekunde, bis klar ist, dass der Dorfchef nur herumflachst. Doch natürlich meint Rietsch das Gesagte auch ein wenig ernst. Mit seinem Ort hat er sich für den Europäischen Dorferneuerungspreis beworben. Im nächsten Sommer wird Giersleben die Farben Sachsen-Anhalts im Kontest offiziell vertreten. Motto: „Lokale Antworten auf globale Herausforderungen.“

Die Gewinner werden – coronabedingt – erst 2021 prämiert. Das Dorf hofft dann, bei der Siegerehrung in Österreich zu den Gewinnern zu gehören. Dabei ist Giersleben im Salzlandkreis aus der Ferne betrachtet zunächst einmal ein Dorf, wie viele andere: 1000 Einwohner mitten in Sachsen-Anhalt, Gemeindezentrum, Kita, Schule, Sportplatz.

Erst beim Besuch wird klar: Giersleben könnte tatsächlich Chancen auf den Titel haben. Das liegt nicht in erster Linie an seiner mehr als 1000-jährigen Geschichte oder der ruhigen Lage im Ausgang des Wippertals am Rand des Harzvorlands.

Vor allem hat Giersleben es geschafft, sich nach der Wende gegen den großen Trend der Entwicklung auf dem Land zu behaupten: gegen Eingemeindungswellen, Abwanderung und Strukturabbau. Wie das?

Zu allererst: „Giersleben ist bis heute eigenständig“, sagt Peter Rietsch, ein zupackend wirkender Ortschef mit grauem Haar, an diesem Julimorgen im Gemeindehaus bei Wurststullen und Kaffee. „Darauf sind wir stolz“, sagt der 59-Jährige, der sein Amt seit 2013 ehrenamtlich führt. "Geht nicht, gibt’s bei uns nicht“, sagt er.

Zwei Frauen aus dem Gemeinderat hat Rietsch hinzugebeten. Beate Backhäuser, Chefin des Heimatvereins, und Kati Melswich, Rietschs rechte Hand im Büro und Busfahrerin für die Schulkinder im Ort. Doch dazu gleich mehr.

Zwar gehört Giersleben heute zur Verbandsgemeinde Saale-Wipper, sein Haushaltsrecht hat es aber bewahrt. „Wir können so noch selbst Entscheidungen für unsere Menschen hier im Ort treffen“, sagt der Bürgermeister.

In Sachsen-Anhalt ist diese Selbständigkeit von Dörfern längst nicht mehr selbstverständlich: Seit der Wende ist die Zahl der Gemeinden nach Angaben des Städte- und Gemeindebunds von 1300 auf 122 zusammengeschmolzen.

Nach einer großen Gebietsreform 2009 bis 2011 fanden sich fast 1000 Ortschaften in einer von 104 neuen Einheitsgemeinden wieder. Flächenmäßig teils größer als München oder Köln, aber ohne Etatrecht.

Eine gemeinsame Identität bestehe wegen der Größe in vielen der neuen Gebilde aber bis heute oft nicht, sagt Heiko Liebenehm vom Städte- und Gemeindebund. Als Alternative gibt es deshalb das Modell der Verbandsgemeinde. Dort haben die Mitgliedsgemeinden noch das Recht, selbst über ihren Haushalt zu entscheiden.

Giersleben gehört zu jenen 114 Gemeinwesen, die Teil einer dieser heute landesweit 18 Verbandsgemeinden sind.

„Wir haben nichts zu verschenken, aber das Geld, das wir haben, setzen wir klug ein“, sagt Peter Rietsch dazu. Beispiele dafür, dass die Gemeinde sich dabei für ihre Bürger stark macht, gibt es im Ort zuhauf.

Das herausragendste ist wohl der geglückte Erhalt der Grundschule „Wippertal“. Während einer landesweiten Schließungswelle 2014 drohte auch ihr das Aus. Mit 56 Schülern lag sie knapp unterhalb der neuen Mindestgröße von 60 Kindern. Die Gierslebener aber fügten sich nicht in ihr Schicksal. Der Schulförderverein gründete einen eigenen Fahrdienst. Mithilfe von Sponsoren schafften die Dorfbewohner dafür zwei Busse an.

Um die nach dem Flüsschen Wipper im Ort liebevoll „Wippi 1“ und „Wippi 2“ benannten Gefährte fahren zu dürfen, machte Rietschs Bürokraft Kati Melswich extra einen Busführerschein. Im Wechsel mit zwei früheren Kraftfahrern, die ehrenamtlich helfen, holt die Fahrerin inzwischen an Schultagen vor der Arbeit in zwei Touren je 40 Kinder ab, am Nachmittag geht es wieder zurück.

„Die Kinder lieben ihre Wippis“, sagt Melswich. Eltern kostet das System nur wenige Euro im Monat. „Das Konzept hat so eingeschlagen, dass unsere Schule heute – sechs Jahre nach dem Start – von 135 Kindern aus 14 Ortschaften besucht wird“, ergänzt Bürgermeister Rietsch.

Inzwischen werden die Busse auch für Fahrten von Senioren, Sportvereinen oder Familienfeiern genutzt. Die Einnahmen fließen zurück in den Unterhalt der „Wippis“.

Doch es ist nicht nur der Fahrdienst, auch die Grundschule selbst hat sich inzwischen einen Ruf in der Region verschafft. 2008 hat die Einrichtung nach Angaben der Gemeinde als erste Sachsen-Anhalts Laptops für alle Klassen angeschafft. Tafel und Kreide sind durch Whiteboards ersetzt worden. Beliebt bei den Kindern ist aber vor allem das Projekt: „Bees for Kids“ (Bienen für Kinder). Hinter dem Titel steckt eine Arbeitsgemeinschaft, in der Kinder mit Imkern lernen, Honig herzustellen. Nachdem der Förderverein der Schule 2018 zunächst einen Bienenstock schenkte, ist das Projekt inzwischen auf sechs Bienenvölker angewachsen.

„Die Kinder sind von der Arbeit mit den Bienen hin und weg. Nebenbei fördert das Projekt das Naturbewusstsein und bewahrt die wichtigen Insekten“, sagt Peter Rietsch. Pro Bienenstock fallen inzwischen im Schnitt 40 Kilogramm Honig pro Saison ab.

Nach dem Schleudern und Abfüllen bieten die Kinder ihren Honig etwa bei Weihnachtsgalas an. Auch Erstklässler erhalten zur Begrüßung ein Gläschen, ebenso Sponsoren.

Unterstützer-Firmen können dann ihren eigenen Schulhonig an Kunden weitergeben – ein sympathischer Weg der Werbung.

Einnahmen fließen auch hier zurück, etwa in die IT-Ausstattung der Schule. Über ihre Laptops können die Gierslebener Schüler ihre Bienen inzwischen jederzeit live aus dem Klassenraum beobachten.

Das ist nicht alles. Als 2017 die Volksbank im Ort schloss, boten die Gierslebener dem Geldhaus eigene Räume im Gemeindehaus an, um wenigstens einen Geldautomaten zu retten. Die Volksbank lehnte ab, die Salzlandsparkasse aber zeigte Interesse. Herausgekommen ist eine Kooperation, die weit über einen Geldautomaten hinausgeht: Montags und freitags bietet Peter Rietsch in den Räumen seine Bürgersprechstunden an. Dienstags und donnerstags aber ist die Sparkasse mit Kundenberatern vor Ort, den Automaten gibt es sowieso. Gemeinde und Bank teilen sich die Betriebskosten für die Räume.

Nicht zuletzt ist Giersleben Vorreiter beim Glasfaserausbau. Dazu hat der Gemeinderat eine Vereinbarung mit einem privaten Internetanbieter abgeschlossen. Das System: Die Gemeinde bezuschusst pauschal jeden neuen Hausanschluss mit 300 Euro. Das entspricht jeweils der Hälfte der Gesamtkosten für den Anschluss bis an die Haustür. Wer selber schachtet, zahlt sogar nur 99 Euro. „Die Mehrheit unserer Einwohner findet die Idee toll und will den Anschluss“, sagt Peter Rietsch.

Die Liste ließe sich fortsetzen. Natürlich hängen all diese Initiativen an Personen. Rietsch selbst würde das so nie sagen – seine Gemeinderätin, Heimatvereinschefin Beate Backhäuser, übernimmt das für ihn: „Unser Bürgermeister hat immer wieder neue Ideen“, sagt sie und lacht. Rietsch weist das Lob höflich von sich. „Es geht nur, wenn alle zusammen anpacken“, sagt er.

Wie auch immer: Die Bilanz gibt den Gierslebenern recht. In Zeiten der Abwanderung verzeichnete das 1000-Einwohner-Dorf vergangenes Jahr 53 Zuzüge (bei 24 Wegzügen), darunter mehrere junge Familien. Am Ende wird für die Gierslebener dann wohl auch nicht entscheidend sein, ob sie den Dorfwettbewerb tatsächlich gewinnen. Mit der Teilnahme haben sie schon jetzt kräftig für ihr Dorf geworben – das zählt. „Erfolge muss man sich organisieren“, sagt Peter Rietsch und zwinkert. „Geht nicht, gibt’s bei uns nicht“ – da war es wieder.