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Grenzwanderung Der lange Weg zur Einheit

30 Jahre deutsche Einheit: Doch ist das, was zusammengehört in drei Jahrzehnten auch zusammengewachsen? Heute: von Hornburg nach Ilsenburg.

16.08.2019, 23:01

Ilsenburg l Ich sitze auf einer Bank in Wülperode und knabbere an meinem zweiten Salami-Stick, als Sebastian Knobbe vorfährt. Der Geschichtslehrer aus Osterwieck hat die Grenzwanderung verfolgt und mich kontaktiert. Er glaubt, dass er da etwas, „das auch zu deinem Generationending passt“, beizutragen hat. Ich bin neugierig.

Fünf Minuten später stehen wir vor einem alten Kfz-Sperrgraben, ein Stück Zaun dahinter, Schautafeln daneben. Die sind Teil eines in Deutschland einmaligen Projekts. Seit 2015 erleben Zehntklässler des Fallstein-Gymnasiums in Osterwieck hier einen Teil der Geschichte ihrer Eltern hautnah, haben ein Denkmal an der ehemaligen innerdeutschen Grenze erschaffen. Bei Arbeitseinsätzen werden Tafeln errichtet, das Gelände gepflegt, die eigene, unbekannte Geschichte greifbar gemacht. „Besser geht es doch nicht“, sagt Knobbe mit Überzeugung in der Stimme. „Es ist wichtig, dass junge Menschen, die die DDR nie erlebt haben, ein Gefühl dafür bekommen, wie das Leben damals war.“ Knobbe ist, so mein Eindruck, der geborene Lehrer. Einer, der immer mehr macht als nötig. Der Streber im Lehrerzimmer.

Geschichtslehrer, 38 Jahre jung und gebürtiger Harzer, der aber eben auch schon mal drei Jahre „drüben“, in Soltau, gearbeitet hat. Wenn nicht er, wer dann soll mir meine Fragen beantworten können? „Wir haben Schüler aus Sachsen-Anhalt und Niedersachsen, aber da spielt dieses Ost-West-Denken kaum noch eine Rolle“, sagt er und deutet mit seinem Zeigefinger 50 Meter weiter. Dort steht wieder eines der großen Schilder, das den Grenzverlauf markiert. „Da fahren die Schüler jeden Tag vorbei, aber das interessiert niemanden mehr.“ Klar, ab und zu hieße es mal Ossi und Wessi, „aber das ist nicht böse gemeint, das haben sie halt irgendwann mal von ihren Eltern übernommen.

Für seine eigene Geschichte, glaubt Knobbe, waren diese Jahre wichtig. „Anfangs war da schon erstmal die Angst, was mich drüben als Ossi erwarten würde“, gibt er zu, zuckt dann aber mit den Schultern. „Unberechtigt. Genau wie hier, gab es auch dort Typen, mit denen man eben klarkam oder nicht.“ Als ich mich von Knobbe verabschiede, breitet sich Zufriedenheit in mir aus. Seine Aussagen passen zu dem Stimmungsbild, das ich erlebt habe, die Puzzleteile passen zusammen.

In Abbenrode angekommen, verfliegt meine Euphorie jedoch schnell. Sobald ich erwähne, wer ich bin und warum ich hier durch den Ort stapfe, verändert sich etwas im Blick der Menschen. „Ich bin auf Grenzwanderung für die Volksstimme.“ Der Kopf neigt sich ein wenig nach unten, ein kleines „Aha“. Immer wieder. Da ist zum Beispiel Martin Haferland, der gerade über den Hof läuft, aber nicht anhalten will. Egal. Ich werde lauter. „Ost und West, ist das noch Thema?“ Er stoppt, dreht sich um. „Tja, bei einigen Sachen schon.“ Und die wären? „Wenn ich nach Goslar will, muss ich erst nach Ilsenburg und über Vienenburg“, sagt er und hebt verärgert die Arme.

Und er hat Recht. Immer, wenn meine Füße auf dieser Tour müde waren und der Gedanke aufkam, auf vier Rädern in den nächsten Ort zu rollen, war das in der Altmark nicht möglich, weil dort in vielen Orten nur Rufbusse fahren. Oder aber ich musste mich für eine Seite entscheiden. Westen oder Osten. Dementsprechend selten ging mein Plan auf.

Haferland will nicht weiter plaudern. Genug genervt. Im Dorfladen treffe ich Tatjana Schubert. Auch die ist freundlich, wird dann aber von Minute zu Minute skeptischer. Ein Foto? Nein! Alter? „Warum?“ Okay, dann aber wenigstens diese eine Frage. Schubert schüttelt in Zeitlupe den Kopf, „vielleicht ist das für die da drüben noch ein Thema, aber hier nicht“. Verstanden. Zeit zu gehen. Auf meinem Weg nach Stapelburg begegne ich einem sehr netten Herren, der gerade seine Hühner füttert. Seine Mütze verrät, er ist in der Feuerwehr aktiv. Er glaubt, dieses „Ost- und West-Ding wird bleiben“. Warum? „Weil die Politiker es nicht schaffen, unsere Löhne und die Betriebsrenten endlich auf ein Niveau zu bringen.“ Als ich nach seinem Namen frage, lacht er wieder. Diesmal ist es ein „Ganz-sicher-nicht“-Lachen. Ich bin nicht mehr überrascht.

In Stapelburg ist weit und breit niemand zu sehen. Ein Supermarkt. Da müssen ja Menschen sein. Ich kaufe eine Cola, nur um mit der Kassiererin ins Gespräch zu kommen. Denkste! „Weiß ich nicht“, antwortet die Frau. Sie lächelt zwar freundlich, macht aber eben auch deutlich, dass sie kein Interesse daran hat, sich mit mir zu unterhalten.

Frustration. Aber dann, fast am Ende meiner Route, soll ich doch noch Glück haben. Ich begegne Janine Knape. 24 Jahre jung. Sie wohnt in Wernigerode, arbeitet für die Kinderhilfe für Siebenbürgen. Offen, freundlich und mit klarer Meinung: „Ossi und Wessi, das wird noch eine Weile so gehen. Bei der neuen Generation, da schwächt es langsam ab, aber ist noch immer da.“

Die letzten Kilometer meiner Grenzwanderung versuche ich meine Eindrücke der vergangenen Tage zu ordnen. Dieses Generationending, das stimmt. Meine Generation kennt die Wende nur aus Erzählungen. Diese Unterscheidung zwischen Ossi und Wessi ist uns entweder fremd oder aber wir identifizieren uns als „Ossi“, stecken den „Wessi“ deshalb aber nicht gleich in die Schublade mit der Aufschrift „Nein, danke!“. Knobbe hat das gut auf den Punkt gebracht: „Diese innerdeutsche Grenze, die Geschichte dazu. die wird von jungen Leuten rationaler und nicht mehr so emotional betrachtet.“

Zu Beginn habe ich Menschen getroffen, die jeglichen Kontakt mit denen da „drüben“ ausschließen, die diese „Nein, danke“-Schublade ohne zu Zögern vor langer Zeit geöffnet und bis heute aufbewahrt haben. Am Anfang war ich überrascht. Um ehrlich zu sein, sogar schockiert. Doch mittlerweile, auch das hat meine Grenzwanderung bewirkt, kann ich das besser einordnen. Mehr rational, weniger emotional. Weil ich besser verstehe.

Meine Generation hat im wahrsten Sinne des Wortes die Qual der Wahl. Beim Studium, bei der Auslandserfahrung, beim Wohnort – in allen Lebensbereichen. Das war damals anders. Da gab es feste Strukturen, den einen Weg und nicht die bunte Welt des „heute hier, morgen dort“. Für die Generation meiner Eltern so selbstverständlich wie die Endlos-Perspektiven für mich heute. Dann kam die Wende. Und für viele Menschen damit die Chance, das eigene Leben nochmal umzukrempeln. Oder eben die Angst davor. Die Hilflosigkeit. Irgendwie ging es dann zwar weiter, aber dieses Gefühl, abgehängt worden zu sein, das blieb. Bis heute. Und so wurde der „Jammer-Ossi“ erschaffen, der zum Augenrollen einlädt. Dessen Perspektive aber selten jemand versucht hat, wirklich zu verstehen. Wie auch? Freiheit, die überfordert, lähmt. Das kann meine Generation gar nicht verstehen. Auch ich bilde mir nach diesen sechs Tagen nicht ein, alles verstanden zu haben. Aber ich bin um ein paar Erkenntnisse reicher.

Eine, die liefert mir mein letzter Gesprächspartner dieser Reise. Kurt Kerwel läuft mit einem Handwagen an mir vorbei, ich spreche ihn an. Ohne große Hoffnung. Doch diesmal habe ich meine „Nein, danke!“-Schublade zu schnell geöffnet. Er hält an, wir plaudern, 25 Minuten lang. „Warum wollen die Nordharzer nicht mit mir reden“, frage ich ihn. Er lacht. „Tja, der Harzer ist stur“, sagt er. „Dabei müssen wir uns doch alle viel mehr unterhalten.“

Alle Eindrücke während der Grenzwanderung teilt unsere Autorin auch im Blog mit.