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Lebensmittelgeschäft Große Freiheit Ilsenburg

Claudia Kemmerling ist die Besitzerin des "Ilsenburger Ladens". Die 56-Jährige erzählt von ihrem bewegten Leben.

Von Vera Heinrich 02.02.2019, 23:01

Ilsenburg l Ein lautes, herzliches Lachen erfüllt die gemütlichen Räume in der Marienhöferstraße in Ilsenburg. Claudia Kemmerling sitzt auf dem roten Samtsofa, das so einladend ist wie ihr etwas anderes Lebensmittelgeschäft höchstselbst. Immer mal wieder setzt sich der ein oder andere an diesem Sonntagnachmittag dazu, um einen Plausch mit der Inhaberin des „Ilsenburger Ladens“ zu halten.

Ein grober Norwegerpulli, die langen Beine in einer abgewetzten Schlaghose aus Cord. Mit einem Zopfgummi versucht sie, ihre silbergraue Lockenmähne zu bändigen, die so eigenwillig ist wie sie selbst. Claudia Kemmerling fällt auf. Das liegt nicht nur an ihrer Größe von 1,80 Meter, mit der sie aus der Masse heraussticht.

Die 56-Jährige hat sich in ihrem bewegten Leben schon viel getraut: Auswandern, den Schritt in die Selbstständigkeit, ein Aussteigerleben im VW-Bus – und Ankommen. Viele Dinge, von denen andere ein Leben lang träumen, hat Claudia Kemmerling mutig und beherzt in die Tat umgesetzt. Dabei sei sie nicht immer so selbstbewusst gewesen, wie sie heute auftritt. „Früher war ich ein stilles Mäuschen“, gesteht sie. Doch die Frau mit dem ansteckenden Lachen musste sich vielfach beweisen. Sie hat sich nie unterdrücken lassen und ist ihren eigenen Weg gegangen, ohne jemals zu wissen, wohin er sie führen würde.

Das jüngste Abenteuer, auf das sie sich einließ, war die Eröffnung ihres Ilsenburger Ladens in der Harzstadt. 2015 übernahm sie die Geschäftsräume und renovierte diese eigenhändig von Grund auf. Die größte Herausforderung sei dabei nicht die bauliche Umsetzung ihrer Pläne in Eigenregie gewesen, sondern zunächst die Buchführung, gibt sie zu.

Die handwerklich begabte Frau zeigt keine Scheu vor harter Arbeit. Und der Aufwand hat sich gelohnt. Die Wände strahlen in sonnigem Gelb. Balken und Dielen in dunklem Holz verleihen dem Geschäft einen rustikalen Charme. Ein Kohleofen verbreitet wohlige Wärme. Claudia Kemmerling legt Wert darauf, dass alle Sinne angesprochen werden. In Wohnzimmeratmosphäre kaufen Einheimische wie Touristen frisches Obst und Gemüse in Bio-Qualität aus Dingelstedt, Käse aus Westerhausen, Marmelade aus Schladen oder Wild aus dem Nationalpark Harz.

Die Lebensmittel werden weitgehend unverpackt präsentiert, zum Sehen, Riechen und Anfassen. Stammkunden bringen ihre Jutebeutel mit. Zu entdecken gibt es hier aber auch regionale Postkarten, zum Teil aus einem ehemaligen Andenkenladen aus DDR-Zeiten, und Bücher eines Quedlinburger Verlages. Dass die Waren regional und saisonal sind, ist Claudia Kemmerling besonders wichtig.

Daher überrascht es zunächst, dass sie auch Schmuck, Wollmützen und Klangschalen aus Nepal verkauft. Doch die Gegenstände zur hinduistischen Gebetsandacht sind kein Zufall. Kuriositäten wie diese hat Claudia Kemmerling auf ihren Reisen entdeckt. „In Nepal habe ich einem Bekannten geholfen, sein Haus zu renovieren“, erzählt sie. Die fremde Kultur habe die weitgereiste Veltheimerin sofort fasziniert. „Besonders beeindruckt hat mich, mit welch einfachen Mitteln die Menschen da glücklich sind.“

Die Eindrücke haben die weltoffene Frau zum Nachdenken gebracht. Angesichts einer vom Kastensystem stark reglementierten Gesellschaft oder den Heiratsvorschriften für junge Frauen in Nepal wisse sie die in Deutschland herrschende Freiheit sehr zu schätzen. Dabei hat sie selbst in ihrem Leben erfahren müssen, dass gerade für Frauen ein selbstbestimmtes und freies Leben keine Selbstverständlichkeit ist.

„Mein erster Berufswunsch war es, Automechanikerin zu werden. Mein zweiter Wunsch war Koch und mein dritter Gärtner. Aber die Berufe waren zu männlich“, erinnert sich die gebürtige Rheinland-Pfälzerin. In der Eifel, wo sie aufgewachsen ist, war es in den 1970er Jahren alles andere als selbstverständlich für ein junges Mädchen, den Beruf zu ergreifen, den sie sich wünschte. „Ich hatte die Wahl zwischen Friseurin, Sekretärin und Verkäuferin.“ Als letztere organisierte ihr die Mutter schließlich eine Ausbildung. „Das war in einem Lebensmittelgeschäft, über meinen Cousin“, schildert Claudia Kemmerling.

 Immer wenn sie nicht zum Dienst erschienen war, habe er ihr mit dem Rausschmiss gedroht. „‘Mach doch‘, habe ich mir da gedacht. Er hätte mir keinen größeren Gefallen tun können“, sagt sie, die schon früh wusste, was sie wollte. Trotz aller Widrigkeiten hat sie es durchgezogen. Heute ist sie selbst davon überrascht, wieder in ihrem widerwillig erlernten Beruf tätig zu sein und ihr Glück, wenn auch über Umwege, damit gefunden zu haben. Mit 17 Jahren verließ sie ihre alte Heimat und zog in die Welt hinaus. Erst in kleinen Schritten, gemeinsam mit einer Freundin nach Mainz. Dann in immer größeren: etwa ins Ruhrgebiet, Sauerland oder nach München, Spanien, Nepal und Ecuador. „Immer wenn es mir zu eng wurde, musste ich weiterziehen. Ich musste sehen, ob es woanders besser ist“, berichtet sie.

Es folgten Jahrzehnte, in denen sie in einer Zeitspanne von drei Tagen bis drei Jahren den Ort wechselte. „Ich habe zwölf Jahre davon nur im Bus gelebt.“ Zusammen mit ihren Hunden war sie im VW-Bulli überwiegend in Mittel- und Norddeutschland unterwegs. Ihre Motivation dafür war ganz klar: „Ich war auf der Suche nach der großen Freiheit.“ Diese Freiheit habe sie genossen, auch wenn sie oft mit viel Arbeit verbunden war.

Die vielseitige Neu-Harzerin habe in der Zeit auf verschiedenen Höfen, Mittelalter-, Weihnachts- und Flohmärkten, in einer anthroposophischen Lebensgemeinschaft, bei Musikveranstaltungen und im Catering gearbeitet. Das Vagabundenleben hat sie nicht nur selbst gewählt. In die alte Heimat konnte sie nicht mehr zurück. Der ältere Bruder hat das Geschäft der Eltern übernommen, die ältere Schwester das Haus. Schnell stand für sie als Jüngste der Geschwister fest, dass „zu Hause kein Platz mehr für mich war“, auch wenn sie noch immer guten Kontakt zu ihrer Familie pflegt.

1999 hat es Claudia Kemmerling dann nach Veltheim verschlagen, der Liebe wegen. Zwar hat die Liebe nicht gehalten, dafür aber die zum kleinen Dorf am Fallstein und zum Harz. Sie fühle sich hier angekommen und habe eine neue Heimat gefunden. Dazu gehört neben ihrem kleinen Fachwerkhaus in Veltheim auch der Ilsenburger Laden. Sie hat sich etwas aufgebaut, was sie selbst nicht für möglich gehalten hat und brennt für ihre Geschäftsidee. „Dass jeder Tag ein glücklicher ist“, sei entscheidend für sie.

Sie schätze die Abwechslung und den Spaß bei ihrer Arbeit in der Harzstadt. Gleichzeitig hat sie keine Angst davor, diese Tür zu schließen, sollte sich das jemals ändern. „Schließt sich eine Tür, öffnet sich wieder die nächste“, habe sie in ihrem abenteuerlichen Leben gelernt.

Auch wenn der VW-Bulli und die Dreadlocks von damals verschwunden sind, ist ihre Freiheitsliebe geblieben. Die entscheidende Veränderung seit Claudia Kemmerlings Ankunft vor beinah 20 Jahren ist, dass ihre Suche ein Ende gefunden hat. „Heute habe ich die große Freiheit gefunden – und zwar in mir selbst.“