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Halle-Attentat Landgericht im Ausnahmezustand

Hunderte von schwer bewaffneten Polizisten - Magdeburg Dienstag: Ein Landgericht im Ausnahmezustand.

22.07.2020, 06:37

Magdeburg l Christina Feist war am 9. Oktober 2019 extra aus Paris nach Halle gekommen, um in der Synagoge im Paulusviertel der Saalestadt Jom Kippur, das höchste jüdische Fest, zu begehen. Gegen 12 Uhr hörte die Wienerin, wie es zweimal nacheinander knallte. „Ich blickte meine Freundin an, die in der Reihe vor mir saß und fast im selben Augenblick sah ich draußen vor dem Fenster Rauch aufsteigen“, sagt die junge Frau, die gerade an ihrer Philosophie-Promotion arbeitet. „Ich habe erst gar nicht realisiert, was los ist. Erst am Nachmittag habe ich nach und nach erfahren, was passiert war.“ Und wie knapp sie dem Tod entronnen war.

Die junge Frau steht auf der kleinen Grünfläche gegenüber dem Magdeburger Landgericht. Sie gehört zu den 43 Nebenklägern, die dem Angeklagten Stephan B. wenig später im Gerichtssaal gegenübersitzen. Auf Einladung des Bündnisses Halle/Magdeburg „Solidarität mit den Betroffenen – keine Bühne für den Täter“ hält sie eine sehr emotionale Rede und mahnt, sich nicht allein auf Prozesse zu verlassen. Auch mit Blick auf das NSU-Verfahren sagt sie: „Man wird oft bitter enttäuscht.“

Zur selben Zeit, als die Jüdin auf der kleinen Bühne steht, warten gegenüber vor dem Landgericht in getrennten Reihen Journalisten und Besucher. Zu den Ersten, die bereits seit 7 Uhr dort stehen, gehört ein 28 Jahre alter Magdeburger. „Ich bin gespannt, wie die Tat vom Gericht aufgearbeitet wird“, umreißt Felix sein Interesse am Hochsicherheitsprozess. „Ich glaub schon, dass das wichtig für die Gesellschaft ist.“

Auch andere in der Wartereihe verweisen auf die „politische Tragweite“, wollen aber ihre Namen nicht nennen.

Ein älterer Mann winkt ab und meint: „Ich habe schon lange mein Vertrauen in den Rechtsstaat verloren.“

Und genau an dieser Stelle setzt auch Cem Özdemir, der bündnisgrüne Bundestagsabgeordnete an, der zum Prozess­auftakt gekommen ist. „Die Gesellschaft muss gegen den Irrsinn deutlicher zurückschlagen. Worte müssen zur Tat werden.“ Der Staat sei nicht auf dem rechten Auge blind. Er habe gar kein rechtes Auge, sagte er und meint damit die rechtsextremistischen Übergriffe der jüngeren Zeit. Vom Prozess erwarte er auch „Aufklärung über das Umfeld des Angeklagten und über dessen Entwicklung. Denn kein Mensch wird ja als Rassist oder Antisemit geboren.“ In der Verantwortung seien auch die Innenminister, sagt Özdemir mit Blick auf die aktuellen Vorkommnisse bei der Hessischen Polizei und verlangt eine „härtere Hand“. Er erscheint später im Gerichtssaal und lässt sich mit den Nebenklägern fotografieren.

Kurz nach 8 Uhr biegt die Blaulichtflotte in die Einfahrt zum Hof des Gerichts-Gebäudes ein. Stephan B. wird schwer bewacht, unter anderem von schwarz vermummten Spezialeinsatzkräften, gebracht. Hinter dem Konvoi werden die Gittersperren sofort wieder geschlossen. Auf der anderen Straßenseite, wo die Solidaritäts-Kundgebung stattfindet, kommt es zu einer kleinen Rangelei. Ordner versuchen, eine Handvoll Aktivisten der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD), die sich mit einem Transparent unter die Anwesenden gemischt haben, abzudrängen. „Das hier ist keine Werbeveranstaltung für eine Partei, hier wird getrauert, Wut gezeigt und Perspektiven sowie Forderungen zum Prozess geäußert“, sagt einer der Ordner. Wenige Minuten später verschwindet die Gruppe.

Jeder Zuschauer, jeder Journalist wird beim Einlass gründlichst untersucht. Der Prozess kann deshalb erst mit zwei Stunden Verspätung beginnen.

Das liegt an den zahlreichen Taschen, die Journalisten mit in den Gerichtssaal genommen haben. „Damit haben wir einfach nicht gerechnet“, sagt Gerichtssprecher Wolfgang Ehm. Ein Röntgenscanner für das Gepäck, wie es auch an Flughäfen üblich ist, habe zudem plötzlich seinen Dienst versagt. Ausgerechnet am Tag des Prozessauftaktes.

Als der Angeklagte in den Saal geführt wird, herrscht Stille. Er wird begleitet von fünf schwarz vermummten Beamten einer Spezialeinheit der Justiz. Dann stellt sich der Senat des Oberlandesgerichtes, bestehend aus fünf Berufsrichtern, vor. Als Bundesanwalt Kai Lohse die Anklageschrift verliest, zeigt Stephan B. keine Regung. Er kennt die Mordvorwürfe genau und bestreitet sie auch nicht. Sein Rechtsanwalt und Pflichtverteidiger Thomas Rutkowski aus Helbra (Mansfeld-Südharz): „Mein Mandant hat sich im Vorfeld intensiv mit den Akten auseinandergesetzt.“ Auf ihn habe er in den ersten Gesprächen einen ruhigen Eindruck gemacht. Sein Mandant wolle aussagen. Als ihm die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens schließlich das Wort erteilt, soll Stephan B. über seine Kindheit sprechen. Dazu sagt er mehrmals: „Das ist unwichtig.“ Der Angeklagte reagiert gereizt, als es um seine Familie geht.

Stephan B. will lieber seine kruden Theorien zum „Kampf für das Überleben der weißen Rasse“ ausbreiten. Doch Richterin Mertens fällt ihm immer wieder ins Wort. Mit Nachdruck unterbricht sie Stephan B.s Monologe und seine Selbstdarstellung auf der Bühne Gerichtssaal.

Am Ende gelingt der Spagat zwischen Aufklärung und Selbstdarstellung nur zum Teil. Insgesamt sind noch 17 Verhandlungstage angesetzt.

Lina Ammari und Sophia Moeskes, zwei 17 Jahre alte Schülerinnen am Magdeburger Norbertusgymnasium, gehören zu den wenigen Zuschauern, die es in den Saal geschafft haben: „Wir wollen wissen, wie der Prozess abläuft und wie entschieden wird“, sagt Lina Ammari. Sophia Moeskes „Mich interessiert, ob das, was in meinen Augen gerecht ist und das, wie das Gericht urteilt, übereinstimmt“.

Auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber vom Landgericht, lehnt ein Kranz an einem Baum. Links und rechts daneben zwei Fotos. Sie zeigen die beiden Menschen, die der Angeklagte auf seinem mörderischen Zug durch Halle erschossen hat – Jana L. und Kevin S. Menschen bleiben vor den Fotos stehen. Schweigend, traurig.