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Halle-Attentat Das zweite Leben des Stanislaw G.

Beim neunten Prozesstag berichteten Zeugen und Opfer. Unter anderem Stansilaw G., der nur überlebt hat, weil Stephan B.s Waffe versagte.

Von Matthias Fricke 02.09.2020, 20:19

Magdeburg l Der 73-jährige Kurierfahrer aus Halle will an jenem 9. Oktober zur Mittagszeit die Post zum Justizzentrum bringen, als er mit seinem Transporter in die Humboldtstraße einbiegt. Vor der Synagoge steht zu diesem Zeitpunkt „ein Typ mit einer Fantasie-Uniform“, sagt er im Prozess gegen den Halle-Attentäter in Magdeburg. Stephan B. trägt da die selbstgebaute Maschinenpistole vor der Brust.

Seine Helm-Kamera hält alles auf Video fest. Neben dem Auto des Attentäters liegt die bereits von ihm erschossene Jana L. (40). Stanislaw G. erinnert sich: „Ich dachte erst, da wird ein Film gedreht.“ Als der für eine Magdeburger Firma arbeitende Fahrer aussteigt und der am Boden liegenden Frau helfen will, zielt der Attentäter auf ihn. Er drückt mehrfach hörbar den Abzug. Nachdem Stephan B. versucht hat, die Ladehemmung zu beseitigen, richtet er wieder die Waffe gegen den Kurierfahrer. Erneut löst sich kein Schuss.

Das Klicken des Abzugs hört der Rentner nicht, weil er sein Hörgerät nicht dabei hat. Er erinnert sich aber: „Am Fenster in der zweiten Etage hat jemand immer wieder ge­schrien: Weg! Weg! Schnell weg!“ Da habe er die Lebensgefahr erfasst. „Ich bin schnell zurück ins Auto. Habe aber vor Aufregung den Zündschlüssel nicht ins Schloss bekommen“, sagt er. Im Rückspiegel sieht er dabei immer noch den Attentäter an seiner Waffe hantieren. Dann endlich startet der Motor und der Mann fährt mit dem Wagen um die Ecke.

Dort ruft er die Polizei an, die sagt, er möge warten. Doch als die Streifenwagen eintreffen, kümmert sich niemand um ihn. Er sagt: „Ich bin dann einfach losgefahren und habe meine Post weiter ausgefahren.“ Erst später meldet sich das Bundeskriminalamt bei ihm. Er selbst gibt sich vor Gericht bescheiden: „Journalisten haben bei meinem Chef in Magdeburg angefragt, aber ich wollte nicht reden, nur helfen. Er schickte mich in einen Kurzurlaub, und so war ich weg.“

Nebenklage-Anwalt Alexander Hoffmann zur Zeugenaussage: „Viele Autos sind vorbeigefahren, keiner hielt an. Dass Sie den Mut hatten, verdient unsere Anerkennung.“ Im Gerichtssaal gibt es Beifall und auch die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens schließt sich dem an.

In der Synagoge sieht Vladislav R. alles auf seinem großen Flachbildmonitor mit an. Der 56-jährige Sicherheitsmann der Synagoge entdeckt zuerst den dunkel gekleideten Mann, der eine Waffe in der Hand hält. „Sie ähnelte einer Pumpgun“, sagt er im Prozess gegen den Halle-Attentäter aus. Bei der Armee oder der Polizei habe er so etwas noch nie gesehen. Um keine Panik auszulösen, flüstert er nur mit dem Gemeindevorsitzenden. Der alarmiert die Polizei. Einige Männer helfen ihm, die Tür zusätzlich mit Stühlen zu verbarrikadieren. Als der Mann auf die Tür mehrere Schüsse abgibt, ruft er, alle sollen sich in Sicherheit bringen. Der Wachmann: „Als es losging, hatte ich nur Angst um die Leute in der Synagoge.“ Unter ihnen war auch seine 83-jährige Mutter. „Sie hat das alles schlecht verkraftet“, sagt er im Prozess aus.

Die 24-jährige Studentin Agatha M. erinnert sich an die Situation in der Synagoge so: „Vor allem die älteren Menschen hatten Panik, als sie in dem engen Flur nach oben in Sicherheit laufen sollten. Wir haben einfach nicht gewusst, wie lange die Situation andauern wird“, sagt die Polin. Die jüdische Theologie-Studentin war vor eineinhalb Jahren nach Deutschland gekommen.

Sie sagt zu der Fahrt mit dem Bus zum Krankenhaus: „Ich habe mich gefühlt wie jemand, der sich im Krieg befindet.“ Sie habe eine Nummer bekommen, mit der sie sich identifizieren sollte. Später, nach dem Attentat, habe sie Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung gehabt. Sie hatte Schwierigkeiten beim Studium und bei der Arbeit und musste eine Therapie machen. Das erging vielen der Betroffenen so. Agatha M.: „Jetzt fühle ich mich aber stärker.“ Nach dem Attentat ist sie nach Polen gefahren, weil sie sich dort sicherer fühlte. „Aber ich möchte mein Studium hier beenden und ich möchte hier leben“, sagt sie.

Im Gegensatz zu ihren Eltern sei sie in einem freien Polen aufgewachsen, aber nicht frei von Antisemitismus. „Heute ist es notwendig, zu sagen: Stopp, es reicht!“ Es gibt Applaus im vollen Zuschauerbereich. Die 30-jährige Christina Feist, die aus Paris zum Jom Kippur gemeinsam mit 20 weiteren Teilnehmern einer Berliner Gruppe in die Synagoge angereist war, kritisiert vor allem die unsensible Polizeiarbeit. „Ich finde es unfassbar, dass sich die Polizei drei Hotelzimmer reserviert  und der Rabbiner mit seiner Familie erhält ein Notquartier.“ Noch schlimmer: „Der Angeklagte weiß offenbar mehr über Jom Kippur als die deutsche Polizei.“ Die jetzt in Frankreich lebende Frau sagt: „Die einzige positive Erinnerung ist die an das Krankenhauspersonal.“

Sie habe nachts Albträume, Panikattacken und zucke bei jedem lauten Knall zusammen. Sie sagt: „Ich werde in Paris bleiben. Ich kann nicht nach Deutschland zurück. Ich habe hier Angst und das liegt auch an der deutschen Polizei.“ Eine Zukunft in Deutschland könne sie sich nicht vorstellen. Man unternehme nichts gegen den historisch gewachsenen Antisemitismus in Deutschland. Der Angeklagte grinst breit. Richterin Mertens ermahnt den Angeklagten wiederholt: „Es gibt hier wirklich nichts zu lachen. Jeder Mensch hat Respekt verdient.“

Erfahren Sie mehr zum Prozesstag im Video von Videoredakteurin Samantha Günther, in dem unter anderem die Nebenklägerin Christina Feist zu Wort kommt.