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Hirninfarkt Nach dem Schlaganfall zurück ins Leben

Der ehemalige SCM-Betreuer Reinhard Schütte kämpft seit zehn Jahren mit den Folgen eines schweren Hirninfarkts.

Von Janette Beck 08.11.2018, 00:01

Biederitz l Reinhard Schütte hadert mit sich und dem schweren Rückschlag. Er sitzt wieder im Rollstuhl. Eine Situation, die der 66-Jährige „hasst wie die Pest“. Führt sie dem Schlaganfall-Opfer doch vor Augen, nach hart erarbeiteten Fortschritten wieder bei null angekommen zu sein. Dass er den aktuellen Höhenflug seines geliebten SC Magdeburg nur aus der Ferne verfolgen kann, macht es um so schlimmer. Handball war und ist sein Leben.

Doch „Reini“ lässt sich nicht unterkriegen. Der einstige Rechtsaußen, der in seiner aktiven Zeit um jeden Ball und jedes Tor gekämpft hat, ringt weiter mit die Folgen eines schweren Hirninfarkts. Momentan macht er das in der Reha in Schönebeck.

Rückblick: Der „Blitz im Kopf“ traf Reinhard Schütte vor zehn Jahren. Aber nicht wie bei 30 bis 50 Prozent der rund 270.000 Deutschen, die jährlich einen Schlaganfall erleiden, „wie aus heiterem Himmel“. Es gab Warnzeichen. Kopfschmerzen. Übelkeit. Hohen Blutdruck. Aber das ignorierte der Biederitzer. Auch das deutlichste Alarmsignal: Seit Tagen hatte er Sehstörungen. Doch Schlappmachen und zum Arzt rennen, das war für die Kämpfernatur keine Option. Denn wie immer gab es jede Menge zu tun für die gute Seele des Vereins, die seit 1990 im Hintergrund für die Profi-Handballer des SCM wirbelte.

„Dabei hätten bei ihm alle Alarmglocken läuten müssen: Sein Vater und auch dessen Brüder sind früh an einem Schlaganfall verstorben“, schüttelt Ehefrau Gudrun noch heute über die Unvernunft den Kopf. „Im Nachhinein muss ich leider sagen: Selbst schuld. Ich habe das Ganze total unterschätzt“, lenkt der Gescholtene ein und sieht die härteste und bitterste Lektion seines Lebens als Warnung für andere: „Nach all dem, was ich erlebt habe, kann ich nur an jeden appellieren, die Symptome ernstzunehmen.“

Der Schlaganfall ereilte Schütte mitten auf der Straße. Obwohl danach alles schnell ging und in der Stroke Unit im Magdeburger Uniklinikum alle notwendigen Maßnahmen eingeleitet wurden, waren die Folgen verheerend. Endstation Koma. Drei Wochen lag er auf der Intensivstation. Tochter Annett und Ehefrau Gudrun bangten um sein Leben. Und mit ihnen die SCM-Familie und unzählige Handball-Fans weit über Magdeburg hinaus, denn „Reini“ war eine Institution im deutschen Handball.

Die ersten Begegnungen auf der Intensivstation waren ein Schock. Die Seelsorgerin am Krankenbett ließ das Schlimmste erahnen. „Ich war wie paralysiert. Der Arzt versuchte mir anhand von MRT-Bildern zu erklären, welche Areale des Gehirns alle in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Es war ein einziger Albtraum“, blickt Gudrun Schütte auf die „schlimmste Zeit meines Lebens“ zurück.

Gestandene Handball-Recken wie die SCM-Legenden Joel Abati oder Oleg Kuleschow bewegte das Schicksal des todkranken Mannschaftsbetreuers zutiefst. „Dass sie herbeieilten und am Krankenbett um ihn weinten, brach einem das Herz. Andererseits trösteten uns die Anteilnahme auch.“

Während deutschlandweit die ersten Spendenaktionen für „Reini“ anliefen, kämpfte er seinen Kampf im Dunkeln. Er sprang dem Tod von der Schippe. Doch der Preis war hoch: Aus dem Koma erwacht, war nichts war mehr, wie es war. Wie über die Hälfte derer, die einen schweren Schlaganfall überleben, war auch Reinhard Schütte ein Pflegefall. Neben linksseitigen Lähmungserscheinungen und Gefühlsstörungen an Arm und Bein leidet er bis heute an Sprach-, Schluck-, Seh- und Gleichgewichtsstörungen. Trotz allem hat er Glück im Unglück gehabt, sagt der studierte Diplomsportlehrer und tippt an seinen Kopf: „Da oben ist zum Glück alles ganz geblieben.“

Das hielt auch Ehefrau Gudrun bei der Stange: „Vom Wesen her ist ,Reini‘ immer noch der gleiche liebenswerte Chaot. Gott sei Dank!“ Gleichzeitig macht die 64-Jährige auch deutlich, dass ein Schlaganfall für die Familie, allen voran für den Lebenspartner, einen tiefen Einschnitt ins Leben bedeutet: „Plötzlich ist alles anders. Das ist wirklich so. Eine harte Prüfung, auch für das soziale Umfeld. Und ganz ehrlich: Ich weiß nicht, ob ich all das mit ihm durchgestanden hätte, wenn ,Reini‘ eine geistige Behinderung davongetragen hätte.“

Die vergangenen Jahre waren aber auch so schwer genug. Der Ex-Rechtsaußen, der alles mit links machte, konnte gar nichts mehr mit links. Das Umschulen auf die rechte Hand, jedes winzige Stück Selbständigkeit waren harte Arbeit. Der erste ausgelöffelte Teller ohne Kleckern, das Halten der Zeitung, das Bewegen des Rollstuhls, das Stehen auf zwei Beinen und später das Gehen am Vierpunktstock – für die Ärzte war das angesichts der Schwere des Schlaganfalls ein „Wunder“. Für „Reini“ waren es Siege des Willens.

Monat für Monat, Jahr für Jahr ging es dreimal die Woche nach Magdeburg in die Physiotherapie. „Abholen, Bringen und die Behandlung selbst – diesen Luxus habe ich dem SCM zu verdanken. Dass man mir in all den Jahren zur Seite stand, das reche ich den Verantwortlichen, allen voran Manager Marc Schmedt, hoch an“, weiß Schütte die nachhaltige Unterstützung zu schätzen.

Dennoch: Bei den Schritten zurück ins Leben ging dem Schlaganfall-Opfer vieles nicht schnell, nicht weit genug. Die linke Seite – vom Auge bis zum spastischen „Spitzfuß“, der alle drei Monate mit Botox gespritzt werden muss – ist nach wie vor sein Handicap. „Seine Ungeduld, sein falsch verstandener Ehrgeiz und vielleicht auch seine Eitelkeit“ – so sieht es zumindest Gudrun Schütte – führten dazu, dass sie zweimal den Reset-Knopf drücken mussten: Zurück auf Anfang!

Das erste Mal im Sommer 2016. Beim Gang am Stock hinaus vor die Tür zum Zeitungholen – ohnehin jedes Mal eine riesige Herausforderung – verlor er das Gleichgewicht und stürzte schwer: Die niederschmetternde Diagnose: Oberschenkelhalsbruch links. Drei Wochen lag er im Krankenhaus im Bett. Im Anschluss musste er für sieben Wochen ins Pflegeheim. Notgedrungen, weil die Ehefrau damals noch berufstätig war. „Zehn Wochen nur liegen – das hat mich vier, fünf Jahre zurückgeworfen. Es war der Horror. Nie wieder!“, schwor er sich.

Nach der sechswöchigen Reha konnte er wieder ein paar Schrittchen am Stock gehen. Das reichte dem Sturkopf aber nicht. „Zu Hause habe ich vor- und nachmittags je eine Stunde weitertrainiert.“ Jeder Schritt mit links wurde gezählt und im Tagebuch protokolliert. Das Ziel: „Ich wollte unbedingt die Eine-Million-Schallmauer knacken.“ Bis 880.000 ist er gekommen. Dann war Schicht im Schacht. Die lange still ertragenen Schmerzen waren nicht mehr auszuhalten. Kein Wunder: Aufgrund der extremen Belastung war unbemerkt der Nagel im Oberschenkelhals gebrochen und hat das linke Hüftgelenk porös geschubbelt. Es half nichts. Schütte brauchte ein neues Hüftgelenk. Die OP erfolgte vor zehn Wochen.

In der Folge sitzt Reinhard Schütte also wieder im Rollstuhl und kämpft gegen den Schatten, der sich erneut auf sein Leben gelegt hat. Hinfallen, wieder aufstehen, nach vorne schauen – das ist sein Schicksal, sagt er: „Ich frage nicht nach dem Warum. Es ist, wie es ist. Und es ist meine Pflicht, das Beste daraus zu machen.“

Für diese Haltung kann ihn seine bessere Hälfte („Das ist Gudrun im wahrsten Sinne des Wortes. Ohne sie wäre ich echt aufgeschmissen.“) nur bewundern: „Ich an seiner Stelle hätte mich längst damit abgefunden, für den Rest des Lebens auf den Rollstuhl angewiesen zu sein.“

„Reini“ nicht. Und so quält er sich in der Reha in Schönebeck und zählt schon wieder Schritte. Am Ende des Tunnels sieht er ein Licht. 101, 102, 103 ...