Ernte Im Blütenrausch am Berg
Familie Braune pflückt im thüringischen Dornburg seit mehreren Generationen Pfingstrosen.
Magdeburg l Es ist einer dieser Tage, an denen die Arbeit einfach nur schwerfällt. Reihe für Reihe immer wieder bücken, schneiden, aufnehmen und das bei Temperaturen, die eher sommerlich als frühlingshaft sind. Doch Sonne und Trockenheit sind gute Bedingungen für die Ernte der Pfingstrosen in den nächsten Tagen.
Mal nur für zwei bis drei Stunden am Abend, mal kurz vor der Arbeit am Morgen, dann quasi als Familienausflug auch mal am Wochenende. Dieses Jahr waren es 14 Tage am Stück. Nur langsam wird der Tragekorb voll. „Es ist eine schweißtreibende Angelegenheit und manchmal eine Plackerei“, sagt Katja Braune. „Aber es ist auch eine Tradition, die uns am Herzen liegt. Schon die Urgroßeltern waren auf dem steilen Hügel unterwegs. Dadurch hat die Arbeit etwas Verbindendes in unserer Familie.“
Die Arbeit, das ist die Ernte von Pfingstrosen, botanisch Päonie, die auf dem Hügel tausendfach erste Knospen zeigen. Rund 3000 Pflanzen stehen in kleinen Büschen auf dem Hang. Dieses Jahr haben Wildschweine dafür gesorgt, dass die Familie Braune weniger zu tun hat. Eines Nachts hat eine Rotte drei Dutzende Sträucher niedergemacht.
Auf dem abschüssigen Hang nordöstlich von Jena wachsen seit über hundert Jahren Bauernpfingstrosen. Die Familie Braune lebt nicht allein vom Verkauf der Pflanzen. Die Ernte der Schnittblumen ist ein klassischer Nebenerwerb und mehr noch eine wichtige Familientradition, die jedes Jahr aufs Neue gelebt wird. Wenn Katja mit ihrer Schwester Maria und Vater Eckhard auf dem Hang unterwegs ist, geht jeder sehr konzentriert durch seine Reihe: Nach Regen ist der Hang glitschig, bei Sonne rutscht man auf dem knochentrockenen und staubigen Untergrund auch mal aus. Im Hintergrund des Hügels liegt erhaben und prächtig das historische Schlossensemble von Dornburg. .
Für die beiden jungen Frauen gilt es, ganz routiniert Blumen zu ernten und zwar schnell. Reihe für Reihe locken die Büsche mit ihren kleinen Knospen. Mit geübtem Blick wissen die drei, welche Knospe perfekt ist, um geerntet zu werden. „Die knospigen Blüten müssen noch geschlossen sein, aber bei leichtem Druck etwas Nachgeben“, erklärt Katja. „Dann müssen sie geschnitten werden.“ In kurzer Zeit klemmt ein prächtiger Knospenstrauß unter den Armen der beiden jungen Frauen und ihres Vaters. Die Pfingstrosen haben eine kurze Saison, daher muss es zügig gehen.
Kurz nach der Wende gab es sogar ein Jahr, in dem niemand in der Familie Zeit hatte, die Knospen Stiel für Stiel einzusammeln. Also wurden sie stehen gelassen. Das Ergebnis: ein beinahe majestätisches Schauspiel, denn der Hügel beeindruckte als blutrote Fläche aus aufgeblühten Päonien. „Früher“, erzählt Eckhard Braune, „wurden die Sträuße kistenweise bis nach Amsterdam verkauft. Doch das ist lange her. Da gab es auch noch Geld für die Stiele. Heute werden sie auf Märkten in und um Berlin angeboten. Es muss nur immer schnell gehen, denn die Päonien brauchen Wasser.“
Alles über die Pfingstrosen haben die beiden Töchter von ihrem Vater und auch den Großeltern gelernt. Die beiden jungen Frauen waren schon als Kinder auf dem Hang und haben mitgeholfen, die Ernte in wenigen Tagen einzufahren.
Heute schleppen die drei ihre randvollen Körbe schon zum zweiten Mal den Hang hinunter. Das ist dann noch eine weitere Plackerei. Im bäuerlichen Familiengarten wnige Gehminuten von ihrem Hügel sitzen dann vier Generationen zusammen und sortieren. Die Pflanzen werden gebunden und alles in den Kofferraum des Autos verstaut. Dann geht es wieder nach Berlin.
Die Bauernpfingstrose hält als Schnittblume in einer Vase einige Tage und verströmt ganz nebenbei einen zarten Duft. „Die Pflanze hat hier in der Region eine ganz besondere Heimat“, erzählt Eckhard Braune. „Nachdem die Reblaus die europäischen Weinanbaugebiete und auch die Weingegend um Jena Ende des 19. Jahrhunderts beinahe vernichtet hatte, wurden statt neuer Rebstöcke vielerorts Pfingstrosen gepflanzt und professionell angebaut. Die Blätter waren in der Kosmetikindustrie sehr gefragt.“
Noch heute nennt sich das benachbarte Gebiet um Jenalöbnitz „Pfingstrosental“. Im Wappen der kleinen Gemeinde trägt der Erzengel Michael neben seinem Schild auch eine Pfingstrose. Sie symbolisiert den Anbau von zahlreichen Arznei-Heilkräutern. Angeblich waren es Mönche aus dem benachbarten Thalbürgel, die auf die Idee mit dem Pfingstrosenanbau kamen. Die warmen Kalkhänge der örtlichen Gleisberge schienen wie gemacht für die ebenso sagenumwobenen und verehrten Heilpflanze.
Schon der botanische Name der Pflanze verweist auf einen medizinischen Nutzen. Das griechische Wort „paionia“ lässt sich auf den Götterarzt Paian in der griechischen Mythologie zurückführen. Er heilte im Trojanischen Krieg Pluto, den Gott der Unterwelt, nachdem dieser von Herakles schwer verwundet wurde.
Auch der Dichter Vergil erzählte in einem seiner Werke von der Wunderpflanze, die einen toten Mann wieder zum Leben erweckte. Im Mittelalter galten die Samen der Pflanze oder ein ausgekochter Wurzelsud als Heilkraut gegen Gicht, Wundschmerz, Zahnleiden und Epilepsie. Im 16. Jahrhundert waren Pfingstrosen in vielen Gärten bereits weit verbreitet, sie galt als „Königsblume“. Kaum einer wollte auf diese Pflanze verzichten. Nach dem Ersten Weltkrieg erlebt die Staude eine Renaissance als Schnittblume, bevor sie dann mehr oder weniger in Vergessenheit geriet.
Doch zurück nach Thüringen: Während die Pflanze in der Region rund ums Gleistal bis Anfang der 1990er Jahre für viele Bauern eine wirkliche Einnahmequelle war, verschwand die Päonie in den folgenden Jahren beinahe ganz. Nur die Familie Braune hat noch eine staatliche Anbaufläche. Doch abseits vieler Straßen sieht man noch heute kleine Flächen, meist auf privaten Grundstücken, denn Geld verdienen kann niemand mehr mit der Bauernpfingstrose. Die Pflanze hat bei der Familie Braune eine Tradition über mittlerweile fünf Generationen. Der Urgroßvater hatte einst das Feld mit den herrlichen Bauernpfingstrosen bepflanzt. Wahrscheinlich verehrte er die Pflanze ebenso wie es in China, der Heimat der Strauchpäonien, seit über eintausend Jahren üblich war. Erst Ende des 18. Jahrhunderts erreichten chinesische Sorten Europa. Doch schon seit dem Mittelalter ist die Pflanze als Staudenpäonie auf der Nordhalbkugel heimisch. Diese beiden großen Päonien-Gruppen gibt es. Die Farbvielfalt ist bei beiden groß, die Menge der Züchtungen ebenso. Vor allem die weit verbreitete Bauernpfingstrose hat heute viele Fans: Das kräftige, dunkle Purpurrot mögen viele Gartenfans in ihren Gärten nicht missen.
Nach der Wende brachen die Preise auf wenige Eurocent pro Stiel zusammen, so dass sich heute nur noch die Familie Braune auf den beschwerlichen Weg auf ihren Hügel macht, um die Pfingstrosen zu schneiden und zu pflegen. Einige Anbauflächen in der Gegend sind längst verwildert. Aufgrund des idealen Klimas sind die Pfingstrosen der Familie Braune meist früher auf dem Markt als andere. „Im vergangenen Jahr waren die Blüten kleiner, dieses Jahr waren wir sehr erfreut, wie fest und groß sie sich uns präsentierten“, erzählt Eckhard Braune. Im Garten gilt die Pflanze übrigens als robust. Ihre Widerstandsfähigkeit ist legendär, denn sie fürchtet Kälte nicht und wächst über Jahrzehnte am selben Ort.
Ab und an brauchen die Pfingstrosen Dünger. Ein gutes Stichwort für Eckhard Braune, der gerne erzählt, wie seine Eltern und Großeltern damals noch mit dem Tragekorb voller Pferdemist und viel Gestank im Rücken den Hang hinaufgekraxelt sind. An das Ende einer jeden Reihe kam ein großer Misthaufen und im nächsten Jahr waren die Pfingstrosen dann noch etwas schöner. Heute ist dies zumindest einfacher geworden, auch wenn die Tradition auf dem Hausberg der Familie Braune immer noch eine eher schweißtreibendes Beschäftigung ist. Und nach der Saison ist vor der Saison. Wie gut, dass Katja mittlerweile mit ihren Töchtern Heidi und Mathilda schon eine neue Generation an fleißigen Händen an ihrer Seite hat.