Klimaschutz Klimaneutral leben: Geht das?
Viele Menschen versuchen, ihren ökologischen Fußabdruck kleinzuhalten, um CO2 einzusparen. Doch wie ist das vereinbar mit unserem Alltag?
Magdeburg l 100 Punkte sind nicht viel. Zumindest für mich. So viel steht bereits jetzt fest. Es ist 9 Uhr, gerade bin ich im Büro angekommen. Mein Tag hat also erst begonnen. Und dennoch: Mit zwei Tassen Kaffee, der Dusche am Morgen und der rund zehn Kilometer langen Autofahrt ins Büro, habe ich bereits jetzt rund 24 Punkte verbraucht. Dazu kommt mein täglicher Basisverbrauch, der mit 29 Zählern zu Buche schlägt. Heißt also: Ich bin bereits jetzt, zum Tagesstart, bei 53 Punkten angelangt. Und dabei verrät doch schon der Name der App, die genau das berechnet hat: „Ein guter Tag hat 100 Punkte.“ Zumindest dann, wenn man klimaneutral leben will. Einfach ausgedrückt bedeutet das: Nur so viel CO2 in die Umwelt ausstoßen, wie diese aufnehmen kann ohne Schäden davonzutragen.
Dabei helfen, sollen unter anderem Apps wie die auf meinem Smartphone. Die berechnet, wie andere Rechner von WWF oder dem Umweltbundesamt auch, die persönliche CO2-Bilanz – und zwar in Form eines Punkte-Budgets. Das Ziel: alltägliche Gewohnheiten ändern – und zwar im Sinne des Klimaschutzes.
Nicht nur die Entwickler der App, auch das Umweltbundesamt hält einen CO2-Ausstoß pro Kopf von 2,5 Tonnen im Jahr für umweltverträglich. Bedeutet: Pro Tag sollte der Bürger nicht mehr als rund 6,8 Kilogramm Kohlendioxid ausstoßen. Darauf beruht auch die Punkteberechnung. Zum Vergleich: Nach Angaben der Agentur für Erneuerbare Energien (AEE) betrug der CO2-Ausstoß pro Kopf in Sachsen-Anhalt im Jahr 2016 rund 11,4 Tonnen. Außerdem vorn dabei im negativen Sinne: die ebenfalls von Braukohle geprägten Länder Brandenburg (22,7 t), Nordrhein-Westfalen (14,4 t) und Sachsen (11,8 t) sowie die Steinkohle-Reviere Bremen (19,2 t) und Saarland (21,7 t).
Die Umwandlung von Energieträgern, um Strom und Wärme zu erzeugen, ist mit 85 Prozent der größte Faktor beim Ausstoß von Treibhausgasen in Deutschland. Dahinter folgen nach Angaben des Umweltbundesamtes der Verkehr (20 %), die Industrie (15 %) – und dann kommt erst der private Haushalt mit zehn Prozent. Nun kann der Einzelne per se erst einmal nichts dafür, wie klimaschädlich die Energieerzeugung in seiner Region vonstatten geht – aber: jede Verändeurng beginnt bekanntlich im Kleinen. Also beim Einzelnen. Auch bei mir.
Doch ich merke schon nach kurzer Zeit, dass klimaneutral leben nicht einfach ist. Das liegt zum einen an meinen Gewohnheiten. Es geht nämlich auch um die Frage: Wie viel bin ich bereit, zu verändern, um meinen Alltag klimafreundlicher zu gestalten? Immerhin hätte ich die nicht mehr ganz so akkurat liegenden Haare in Kauf nehmen und damit vier Punkte am Morgen sparen können. Ein anderer Grund sind die Umstände, die sozusagen den Rahmen meines Alltags zeichnen. Heißt: Klar, es ist rein theoretisch möglich, die zehn Kilometer am Morgen trotz zwei-Grad-Außentemperatur per Fahrrad zurückzulegen und damit satte 19 Punkte zu sparen. Aber eben nur theoretisch. Immerhin benötige ich mein Auto auch ab und zu, um spontan Termine wahrzunehmen.
Persönliche Einstellung auf der einen und gesellschaftliche Strukturen auf der anderen Seite – zwei Faktoren, die maßgeblich sind. Die Frage muss also lauten: Ist ein klimaneutrales Leben in der Gesellschaft, in der wir leben, mit der vor Ort vorhandenen Infrastruktur, der Art der Energieerzeugung, unseren Wirtschaftsstrukturen und zahlreichen anderen Faktoren überhaupt möglich?
„Nein“, sagt Mercedes Sza-meitat. Sie gehört zum Organisationsteam der Magdeburger „Fridays for Future“-Gruppe. Zur Generation der Jugendlichen also, die im vergangenen Jahr den größten Anteil daran hatten, dass man in diesen Tagen schon mit Scheuklappen durch die Gegend laufen muss, um das Thema Klimaschutz zu ignorieren. Und sie ist sich sicher: „In der Gesellschaft, in der wir leben, ist ein klimaneutraler Alltag für den Einzelnen kaum möglich.“ Doch darum gehe es auch nicht. Sondern vielmehr darum, wertschätzender und vor allem bewusster mit Ressourcen umzugehen und dementsprechend zu konsumieren, so die 18-Jährige.
Eine zentrale Forderung von „Fridays for Future“ ist die „Nettonull“ in Deutschland bis 2035 beim Ausstoßen von Treibhausgasen. Und hier muss Sza-meitat, die durch ihre beste Freundin zur Klima-Bewegung gekommen ist, kurz selber schmunzeln. „Naja, wenn man die Ziele hochsteckt, kann man durchaus einen Kompromiss finden.“
Kompromisse also. Okay, an dieser Stelle bin ich auch gerade angelangt. Zwei Essen stehen in der Kantine zur Auswahl. Das Schnitzel klingt gut, aber meine App sagt mir, ich kann mit der Hühner-Reissuppe Punkte sparen. Alles klar, dann heute Suppe statt Schnitzel. Acht Punkte. Das Wasserkochen am Nachmittag ist mit 0,6 Punkten das kleinste Übel. Denn: Es ist 18 Uhr, meine rund acht Stunden am Computer in der Redaktion kosten mich neun Zähler. Und es wird noch schlimmer: Mit der Autofahrt nach Hause, einer Ladung Wäsche und dem Treffen mit der Freundin im Sushi-Restaurant sprenge ich mein klimafreundliches Dasein endgültig. Am Ende des Tages zeigt mir meine App: 181 Zähler. Also fast die doppelte Menge an Punkten als „erlaubt“.
Doch „erlaubt“ ist nicht der richtige Begriff, zumindest sieht das Dirk Szodrak so. „Es geht nicht um Verzicht, es geht darum, bewusster zu leben“, sagt auch er. Das macht der gebürtige Rostocker, der seit Ende der 1990er Jahren in Kalbe an der Milde in der Altmark lebt, bereits seit Jahrzehnten. „Immer, wenn wir irgendwo hinkamen, hieß es ‚oh, da kommen die Grünen‘ wieder.“ Der Familienvater lebt klimafreundlich, setzte auf regionale Produkte, fährt viel Fahrrad und konsumiert nur so viel, wie er zum Leben benötigt. Den Klimaschutz im Kleinen, den hat er quasi verinnerlicht. Also ging er im vergangenen Jahr einen Schritt weiter.
Denn klar ist: Soll Klimaschutz wirken, müssen alle – vom einzelnen Bürger bis hin zur großen Weltwirtschaft – mitwirken. Aber fangen wir mit der Kommune an: in Kalbe an der Milde. Hier lebt Szodrak und motivierte Freunde im Oktober dazu, vor dem Rathaus, ein Zeichen zu setzen. Ein radikales. Denn die Gruppe ließ die einzelnen Stadtratsmitglieder erst passieren, nachdem die ihre Unterschrift geleistet hatten - für den Klimanotstand. Mit Erfolg.
Als erste Kommune in Sachsen-Anhalt wurde einen Monat später in Kalbe an der Milde der Klimanotstand ausgerufen. „Die Stadtratsmitglieder waren dialogbereit, man hat gemerkt, dass das Thema Klimaschutz hier bereits angekommen ist“, sagt Szodrak. Den Klimanotstand ausrufen ist mehr ein symbolischer Akt, da er rechtlich nicht bindend ist.
Aber eben ein erster, wichtiger Schritt. Denn: „Kommunen können einen großen Einfluss auf den Klimaschutz nehmen“, sagt Lizzi Sieck vom Uweltbundesamt, die sich vor allem mit kommunalem Klimaschutz beschäftigt. Kommunen seien wichtig für eine „erfolgreiche Bewusstseinsbildung von Klimaschutz vor Ort“. Vor allem aber können, wenn nicht sogar müssen sie, die Entwicklung der lokalen Infrastrukturen klimafreundlich gestalten. „Dazu gehört es, Flächen für den Radverkehr und für Grünflächen zur Verfügung zu stellen oder hohe energetische Ansprüche aufzustellen für neu zu errichtende Gebäude“, so Sieck.
In Kalbe an der Milde sei noch nicht viel passiert, schätzt Szodrak ein, „aber wir schauen erstmal, was sich jetzt entwickelt, und werden dann sehen, welche weiteren Aktionen wir durchführen“. Seine Wunschvorstellung ist eine „Kettenreaktion“. Auch in anderen Kommunen in der Altmark habe er sein Anliegen vorgetragen. „Aber man merkt, dass viele Bürgermeister in den Kommunen Angst davor haben, was danach kommt.“ Gern würde Szodrak sein Anliegen jeder Gemeinde präsentieren, „bis der Altmarkkreis Salzwedel als gesamter Landkreis mitzieht“.
Im Klimabündnis, einem Netzwerk, dem weltweit mehr als 1700 Städte und Gemeinden angehören, sind mittlerweile sechs Städte aus Sachsen-Anhalt. Damit haben sich Halle, Magdeburg, Dessau, Wittenberg, Wernigerode und Halberstadt auch verpflichtet, die CO2-Emissionen alle fünf Jahre um zehn Prozent zu senken. Mit dem „Masterplan 100 % Klimaschutz“ hatte sich die Landeshautstadt verpflichtet, bis 2050 eine fast klimaneutrale Stadt zu sein, also den Ausstoß von Treibhausgasen um 95 Prozent zu senken und den Energieverbrauch zu halbieren. Nach einem Stadtratsbeschluss im September lautet das Ziel nun: ein klimaneutrales Magdeburg bis 2035.
Ein wichtiger Faktor: die Verkehrspolitik. So sei der Sachsen-Anhalter mit seinen rund 11,4 Tonnen CO2 im Jahr kein besonders schwerer Klimasünder, „der Individualverkehr spielt aber eben besonders hier, in einem sehr ländlich geprägten Bundesland, eine große Rolle“, sagt Michael Böcher, Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit an der Otto-von-Guericke-Universität. Böcher sagt, ein klimaneutrales Leben des Einzelnen ist durchaus möglich, „es bedeutet aber starke Einschränkungen und ist kein Prozess, der über Nacht funktioniert“.
Auf kommunaler und unternehmerischer Ebene ist Klimaschutz auch eine Frage der wirtschaftlichen Strukturen. Auch für Landkreise. Hier setzt das von der Nationalen Klimaschutzinitiative geförderte Projekt „Land-Kreis-Gemeinde“ an. Es will zeigen, dass Klimaschutz nicht nur eine gut gemeinte Sache ist, sondern auch wirtschaftlich attraktiv sein kann. Das Projekt befindet sich gerade in der Auswahlphase, alle Landkreise in Deutschland konnten sich bewerben. „Wir wollen diesen Landkreisen zeigen, dass Klimaschutz auch eine Entlastung für den Haushalt oder zum Beispiel Kosteneinsparungen für Unternehmen bedeuten kann“, so Böcher.
Das Projekt ist, wenn man so will, die Verbindungsstelle zwischen zwei Positionen, die aktuell in der Debatte der Klimapolitik aufeinandertreffen: Muss unser Wirtschaftssystem schrumpfen, sich grundlegend verändern, oder kann es mit den neuen Anforderungen, die der Klimawandel stellt, durch Innovationen mitwachsen?
Um die Vereinbarkeit von Klimapolitik und wirtschaftlichen Interessen ging es auch bei der „StreitBar“ der Otto-von-Guericke-Universität, bei der Böcher und der Ökonom Professor Joachim Weimann, über politische und wirtschaftliche Instrumente zur Umsetzung der Klimaschutzziele diskutierten. Für Weimann ist klar: „Der Emissionshandel ist das effektivste Instrument für den Klimaschutz.“ Einfach ausgedrückt, sollen bei dem Instrument, das in der EU-Klimapolitik erst richtig seit 2008 zur Anwendung kommt, die zahlen, die den meisten Dreck in die Luft blasen. Kraftwerke und Industrieanlagen erhalten CO2-Zertifikate. Das erlaubt ihnen, die Luft zu verschmutzen. Pro Zertifikat kann eine Tonne Kohlendioxid in die Luft geblasen werden. Wird mehr benötigt, werden Zertifikate von anderen, die sie nicht benötigen, gekauft.
Das sei effektiv, sagt Weimann. Denn ein grundsätzliches Problem sei doch, „dass niemand über die Kosten redet, niemand sagt, was die vielen Klimaschutzmaßnahmen eigentlich kosten“. Er vertritt die marktorientierte Position.
Eine, mit der sich viele im Saal, das wird schnell klar, nicht gemeinmachen wollen. Eine Zuhörerin sagt: „Profit, es geht nur um Profit.“ Doch auch Böcher hält den Emissionshandel für ein „wirksames klimapolitisches Instrument“. Denn: Dass in Deutschland laut Agora-Energiewende das Emissionsziel, bis 2020 40 Prozent der Treibhausgas-Emissionen einzusparen, nun doch erreicht werden kann, wird neben anderen Faktoren auch dem europäischen Emissionshandel zugeschrieben.
Doch der Emissionshandel ist eben nur ein Instrument. Die Veränderung, die beginnt im Kleinen. Also auch bei mir. Vielleicht kann das Auto also ab Frühjahr doch mal vor der Haustür stehen bleiben.