Interview zur Corona-Politik Ärzte-Chefin: „Die Leute sind genervt“
Nach zehn Jahren als Präsidentin der Ärztekammer Sachsen-Anhalt gibt Simone Heinemann-Meerz das Amt am heutigen Tag ab. Im Interview mit Alexander Walter spricht sie über Fehler der Politik in der Corona-Krise und die Verschlankung der Krankenhauslandschaft.

Volksstimme: Frau Dr. Heinemann-Meerz, in der Pandemie haben oft einzelne Mediziner die Debatte geprägt. Frank-Ulrich Montgomery, Vorstand des Weltärztebundes, etwa hat wegen der Delta-Variante gerade vor neuen Lockerungen gewarnt. Zu Recht?
Ich frage mich, wieso immer alle auf das aufspringen, was Herr Montgomery sagt. Er ist Radiologe, mit Virologie hat er nichts zu tun. Herr Montgomerys Aufgabe ist es, sich um den Weltärztebund zu kümmern. Die ärmeren Länder müssen in die Pandemieplanung einbezogen werden.
Hat die Bundesregierung in der Pandemie zu sehr auf solche Einzelstimmen gehört?
Die Bundesregierung hat zuerst nur auf den Virologen Christian Drosten und Lothar Wieler als Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI) gehört. Erst später kamen auch auf Intervention der Bundesärztekammer andere hinzu. Was wir brauchen, ist ein unabhängiges Expertengremium aus Virologen, Hygienikern, Epidemiologen, Infektiologen … usw. Das RKI ist eine Einrichtung der Bundesregierung, aber es braucht eine unabhängige Behörde, die im Katastrophenfall sofort reagiert.
Was genau hat nicht gut oder zu spät funktioniert?
Nachdem es zunächst hieß, Masken schützen nicht, hat man den Leuten erzählt, sie sollten in Innenräumen selbst gebastelte Masken tragen. Das tat die Politik nur, weil es keine medizinischen Masken gab. Tatsache ist: Solche Masken nützen nichts. Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, hat im ZDF bei Markus Lanz eins auf die Mütze bekommen, weil er diese Wahrheit ausgesprochen hat. Zweites Beispiel: Die Nicht-Besuchsmöglichkeit für Angehörige von Pflegebedürftigen in Heimen und Rehaeinrichtungen. Das war schlimm und schwer auszuhalten. Es gibt noch vieles mehr.
Alarm verbreiten, ist kontraproduktiv.
Die Pandemie war etwas völlig Neues. Muss man nicht auch der Politik zugestehen, dazuzulernen?
Sicher, aber das geschieht ja zu wenig. Es ist eine Katastrophe, dass mit dem Aufbau von Schnellteststationen noch vor kurzem in hoher Zahl Tests abgerechnet werden konnten, die gar nicht ausgeführt wurden. Eine Freundin hat mir erzählt, bei einem Schnelltest habe sie ihr Ergebnis schon nach einer Minute erfahren. Das ist nicht seriös. Ein Jahr nach Beginn der Pandemie muss die Politik doch in der Lage sein, festzulegen und zu erfassen, wer mit welcher Qualifikation Tests anbieten darf. Für die Tests gibt es viel Geld!
Eine Studie der Uni Frankfurt hat dem Distanzunterricht an Schulen weltweit im Frühjahr 2020 eine ähnlich hohe Effektivität unterstellt wie Ferien. Sie werden vermutlich nicht widersprechen ...
An den Schulen können Sie eigentlich ein ganzes Schuljahr abhaken. Da ist vieles nicht konsistent, da herrschte zu viel Kakophonie. Hier fällt uns auch der Föderalismus auf die Füße. Mit Maske, ohne Maske, Heim- und Wechselunterricht. Dabei weiß man, dass Jugendliche eigentlich gar nicht das Problem in der Pandemie sind.
Während der zweiten Welle gab es hohe Inzidenzwerte gerade bei Jugendlichen ...
Das stimmt. Es hätte aber gereicht, Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten und die Lehrer prioritär zu impfen. Es gibt Kontaktpersonen ersten bis dritten Grades. Wenn es einen infizierten Schüler gibt, muss man nicht gleich die ganze Klasse nach Hause schicken sondern muss die genauen Umstände prüfen.
Was hätten Sie denn besser gemacht?
Auf Bundes- und Landesebene haben wir Katastrophenpläne, um für Ernstfälle wie eine Pandemie vorzusorgen. Die hätte man zentral und schneller umsetzen müssen. Zudem ist es kontraproduktiv, ständig Alarm zu verbreiten, wie es Einzelne tun, etwa der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach. Am Anfang mag das für Aufmerksamkeit gesorgt haben. Inzwischen sind die Leute aber einfach nur noch genervt.
Sachsen-Anhalt steht auch wegen leerer Kassen erneut vor der Frage: Wie weiter mit der Kliniklandschaft im Land: In Havelberg wurde zuletzt bereits ein Krankenhaus geschlossen. Brauchen wir eine weitergehende Konzentration?
Da ist in jedem Fall Bewegung notwendig. Wir haben nach wie vor zu viele Betten pro Kopf. Forderungen, wie: „Unser Krankenhaus soll im Ort bleiben“, sind Unsinn.
Gesundheitsministerium und Landtag haben sich erst 2019 zum Erhalt aller 47 Klinikstandorte bekannt ...
Das Land hätte hier klarere Vorgaben für mehr Kooperation, Qualitätssicherung und Spezialisierung machen müssen. Die Patienten wollen zu Recht Qualität und müssen dann eben ein paar Kilometer fahren. Man muss das nur verständlich kommunizieren.
Sie waren zehn Jahre Ärztekammerpräsidentin im Land. Was haben Sie bewegt?
Als ich anfing, spielte die Ärztekammer in der Öffentlichkeit keine Rolle. Das ist nun anders. Gleich zu Beginn habe ich eine Amtszeitbegrenzung auf zwei Wahlperioden eingeführt. Des Weiteren dürfen wir nunmehr im Krankenhausplanungsausschuss des Landes mitarbeiten. Neu ist auch, dass wir in alle auch uns betreffenden Gesetzgebungsverfahren frühzeitig einbezogen werden. Das war vorher nicht selbstverständlich.
Und Sie haben das klinische Krebsregister für das Land etabliert.
Obwohl die Etablierung des Krebsregisters und dessen Finanzierung im Gesetz stand, hat sich das zuständige Ministerium schwergetan. Wir haben alle notwendigen Schritte bis hin zur Bestellung des Geschäftsführers und zur notariellen Gründung einer gGmbH erledigt. Wir haben jetzt das Register, es ist finanziert. Es läuft gut.
