Landtagswahl Sachsen-Anhalt Katja Pähle: Solo mit einer Unbekannten
Am 6. Juni wird ein neues Parlament gewählt. Die Volksstimme stellt die Spitzenkandidaten der im Landtag vertretenen Parteien vor. Heute: Katja Pähle, SPD.

Magdeburg - „Was sagt Ihnen Sedan 1870?“ Katja Pähle steht an ihrem kleinen Wahlstand im Breiten Weg in Magdeburg, stutzt, holt Luft – und noch ehe sie sich in den Schlachtverläufen des Deutsch-Französischen Kriegs verlieren muss, sagt Roland Ilse, was ihm selber zu jener Epoche einfällt: „Ja damals war die SPD noch stark. Wenn August Bebel redete …“ Rentner Ilse, 79, klingt so ergriffen, als sei er selbst noch mit dabei gewesen. „Heute ist die SPD nur noch ein Schatten davon“, bemerkt er und schlägt gleich wieder den Bogen zum Militärischen. „Afghanistan war falsch. Und Ihr habt mitgemacht.“ „Ja“, sagt Kandidatin Pähle so halb entschuldigend, „die Situation hat sich dort geändert, aber sie ist nicht befriedet.“
Schraube ab
Katja Pähle streckt Passanten eines der bunten Faltblätter entgegen. Viele huschen vorbei, schnell in Richtung Straßenbahn oder Karstadt. Die Kandidatin lächelt freundlich, genauso nett wie auf den großen Plakaten, die an Magdeburgs Straßen stehen. Doch nur wenige stoppen. Die Hallenserin Pähle ist vielen unbekannt, und das nicht nur in Magdeburg. In einer MDR-Umfrage vom April gaben 69 Prozent der Befragten an, Katja Pähle nicht zu kennen. Als Fraktionschefin macht sie mit ihren Kollegen im Landtag zwar die Gesetze – aber in der Zeitung stehen meist die Minister. Dass die Konkurrenten von Grünen, AfD und FDP ähnlich schwache Bekanntheitswerte haben, ist da nur ein schwacher Trost.
„Lösen S’e mal die Schwarzen ab“, ruft eine ältere Dame. Manche gehen auch weiter, sagen, sie hätten schon gewählt. „Und na klar, wie immer die SPD“, sagt eine Frau. Vor ein paar Tagen in Wernigerode hat das Katja Pähle auch oft gehört. „Demnach müssten wir 100 Prozent bekommen.“ In Umfragen klebt die Partei seit Monaten bei 10 bis 12 Prozent. Die SPD-Fahne flattert am Wahlstand, ein kalter Wind pfeift durch das Stadtzentrum. Es wird und wird nicht warm in diesem Frühjahr. Ich frage noch Roland Ilse, der so von Bebel schwärmte, ob er denn die SPD wählen würde. „Ach wissen Sie, Rot-Grün hat mir Hartz IV angetan.“
Die Krone in weiter Ferne
Hartz IV liegt der SPD wie Blei in den Schuhen. Aber auch in Sachsen-Anhalt haben die Genossen den Leuten einiges zugemutet. Gemeinden mussten fusionieren, Schulen wurden geschlossen, Lehrer und Polizisten wurden kaum noch eingestellt. Das war von 2006 bis 2016. Seit 2011 ist auch Katja Pähle im Landtag mit dabei. „Es war der richtige Ansatz. Aber von 2013 bis 2016 wurde die Schraube zu sehr angezogen“, meint sie heute. „Und nach ,fest’ kommt ,ab’“. 2016 schwenkte die SPD um. Doch der Millionen-Segen für Kitas und Familien wandelt sich nicht in Prozente für die SPD. Die Erfolge werden zumeist mit dem Ministerpräsidenten verbunden, sagt Pähle. Und den stellt seit 19 Jahren die CDU. Früher hatte sich die SPD damit nicht abgefunden. Bis 2016 traten ihre Spitzenleute als Ministerpräsidenten-Kandidaten an. Katja Pähle macht das nicht. Erstmals seit langem greift die SPD nicht nach der Krone. Sie sei Realistin, sagt sie. Mit 10 Prozent im Rücken könne sie nicht an der Tür der Staatskanzlei rütteln. Noch nicht.
Das T-Shirt und die Nazis
Als Katja Pähle Ende der 90er Jahre in die SPD eintrat, sonnte sich ihre Partei im Stimmungshoch. Gerhard Schröder hatte den ewigen Kanzler Kohl besiegt. Die SPD hatte sich in Sachsen-Anhalt zur stärksten Partei gemausert. Doch die allgemeine Euphorie sei es nicht gewesen, es gab andere Gründe für das Parteibuch. „Es war wegen der DVU“, sagt Katja Pähle. 1998 war die rechtsextreme Partei in den Landtag gezogen. Mit 13 Prozent. Wäre sie ohne DVU-Erfolg nicht in die Politik? „Ich weiß es nicht“, sagt Katja Pähle. Gab es Familienangehörige, die unter den Nazis gelitten hatten? „Nein“, sagt sie. Der Schock habe sie motiviert, sich politisch einzumischen. Die SPD fand sie passend: Eine Partei des Ausgleichs mit Sinn fürs Realistische. „Die Grünen waren für mich nicht wahrnehmbar“, erinnert sich Pähle. Bei der CDU störten sie Familienbild und Behäbigkeit. Die PDS lag ihr zu nah an Wolkenkuckucksheim.
18 Jahre nach dem DVU-Erfolg zog die AfD in den Landtag. 270000 Stimmen, 24 Prozent. Auf einer Landtagssitzung trug Fraktionschefin Pähle ein T-Shirt. Aufdruck: „FCK NZS“. Das steht für: „Fuck Nazis“. In einer Sitzungspause musste sie sich umziehen. Die Landtagspräsidentin wollte es so. „Ich wollte provozieren“, sagt Katja Pähle. „Ich habe in Geschichte aufgepasst. Was einmal passiert ist, kann wieder passieren.“
Erst geheult, dann geeint
Das politische Beben erreichte 2016 auch die SPD. Die einstige Volkspartei stürzte auf 10,6 Prozent. Auch dieser Schock änderte Pähles Leben. Nach der Wahl traf sich die Partei zur Krisensitzung. „Es war wie in einer Psychiatrie“, erinnert sich ein Genosse. „Es wurde geschrien und geheult.“ In der Krise ergriff Pähle die Chance, setzte sich gegen kampferprobte Herren durch und wurde Fraktionschefin. Danach gelang ihr etwas Spektakuläres: die Fraktion zu einigen.
Die SPD-Fraktion war seit 1994 immer gespalten. Es gab das Reinhard-Höppner-Lager (für eine Tolerierung durch die PDS) und das Manfred-Püchel-Lager (für mehr Kooperation mit der CDU). Es gab das Jens- Bullerjahn-Lager (strenger Sparkurs) und die Holger-Hövelmann-Anhänger (für eine moderate Linie). 2016 gab es die „Buddisten“ (wie die Anhänger von Fraktions- und Parteichefin Katrin Buddes genannt wurden) und die ihrer Gegner. Und heute?
„Lager gibt es nicht mehr“, sagt der Abgeordnete Holger Hövelmann, der 2009 als Parteichef gestürzt worden war. „Wer früher gegen den Strom schwamm, war ein anderer Fisch.“ Das sei vorbei und vor allem Pähles Verdienst. Rüdiger Erben, seit 15 Jahren in der Landespolitik, meint: „Das ist die Fraktion, die mit Abstand den größten Zusammenhalt zeigt.“
Die Chefin redet viel mit vielen Leuten, ehe Entscheidungen fallen. Und sie weiß, wovon sie redet. „Sie ist immer vorbereitet“, sagt Finanzer und Parteichef Andreas Schmidt „Ich kenne kaum jemanden, der so präzise im Fach steckt.“ Auch der Koalitionspartner und Wahlkampfgegner CDU zollt Anerkennung. „Sie trägt keine ideologischen Scheuklappen. Das habe ich bei anderen anders erlebt“, sagt Unionsfraktionschef Siegfried Borgwardt. Pähle mag Debatten ohne Schaum vorm Mund. „Ich sage mir: Der andere könnte auch recht haben.“
Solo statt Trio
Doch so harmonisch wie in der Fraktion läuft es in der Landespartei nicht. Das zeigte sich 2020, als die Mitglieder über die Spitzenkandidaten abstimmten. Fraktionschefin Pähle trat an – und bekam Konkurrenz. Roger Stöcker, Politikwissenschaftler und bis dahin ohne landespolitische Meriten, schaffte auf Anhieb 43 Prozent. Pähle gewann zwar mit 55 Prozent, aber es war ein Sieg ohne Glanz. Eine Hälfte der Partei sehnte sich nach einem Neuanfang.
Danach gab sie, bestärkt von Beratern, einen klaren Linkskurs aus. Doch Pähle merkte schnell, dass ihre SPD daran zerbrechen könnte, da viele es ablehnen, der CDU alle Türen zuzuschlagen. Sie erkannte den Sprengsatz und sagte im Januar: „Wir führen keinen Lagerwahlkampf.“
Der Unterlegene Stöcker wollte mit ins Team. Pähle lehnte ab. Sie sagt: Er habe auf Anhieb Rang zwei hinter ihr und einen Platz auf den Wahlplakaten beansprucht. Doch die Ränge zwei und drei hatte sie bereits Wirtschaftsminister Armin Willingmann und Petra Grimm-Benne zugesagt. Im Dreier-Team wollte sie mit den beiden in den Wahlkampf ziehen. Stöcker blieb draußen. Doch vom einst versprochenen Dreier-Team ist nicht viel zu sehen. Von den Großplakaten lächelt nur eine: Katja Pähle.
Etliche in der Partei hadern mit Pähles Solonummer. Sie hatten erwartet, dass sie im Wahlkampf mit den weithin bekannteren Ministern eine Troika bildet. Zumal Wirtschaftsminister Willingmann in der Partei höchste Zustimmung genießt. Bei der Listenwahl auf dem Parteitag im Februar erhielt er 98 Prozent. Pähle bekam als Spitzenkandidatin 87 Prozent. Ordentlich, aber nicht herausragend.
Katja Pähle weiß, dass nun alles auf ihr lastet. „Ich bin das Gesicht der SPD nach außen. Mich kennen noch zu wenige. Aber das muss ja bis zum Wahltag nicht so bleiben.“
Am Montag nach der Wahl wird es wieder eine Sitzung geben. So lange die Partei irgendwie zweistellig landet, bleibt das große Heulen diesmal aus, meint ein Genosse. Aber sicher sei nichts. „Vor der Einstelligkeit haben viele Angst.“
Zur Person:
Familie: Am 27. Juni 1977 in Wippra geboren, wuchs Katja Pähle mit ihrer Schwester in Hettstedt auf. Die Mutter war Apothekerin, der Vater leitete die Betriebsakademie im Walzwerk. Mit 13 ließ sie sich taufen und konfirmieren. Katja Pähle ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt in Halle.
Ausbildung und Beruf: Nach dem Abitur studierte sie Soziologie und Psychologie an der Uni Halle. Sie promovierte 2010. Von 2008 bis 2011 arbeitete sie im Sozialministerium.
Politik: 1998 Jusos, 1999 SPD-Eintritt. SPD-Stadtchefin in Halle (2005 bis 2013), Landtag (seit 2011), Fraktionschefin (seit 2016).
Ziele: Tariftreue-Gesetz, höhere Investitionen an Kliniken und Schulen, kostenlose Kitas.