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Lehrermangel Tullner: "Niemand muss sich sorgen"

Im Interview wirbt Sachsen-Anhalts Bildungsminister Marco Tullner (CDU) für Geduld im Kampf gegen die Personalnot an Schulen.

Von Alexander Walter 02.01.2020, 00:01

Herr Tullner, die Unterrichtsversorgung im Land ist schlecht wie nie. Im November haben Sie erklärt, bei Einstellungen stoße man an die Grenze des Machbaren. Haben Sie vor dem Lehrermangel kapituliert?
Marco Tullner: Nein, aber wir brauchen einen langen Atem, schnelle Lösungen gibt es nicht. Der Mangel hat sich schleichend entwickelt, jetzt brauchen wir mit Blick auf die Ausbildungszeiten junger Lehrer auch ein paar Jahre, um wieder herauszukommen. Damit steht Sachsen-Anhalt aber nicht allein. Alle Ostländer haben ähnliche Probleme.

Ist Ihrer Meinung nach alles Machbare ausgeschöpft?
Wir haben – wie im Koalitionsvertrag vereinbart – mehr Geld in die Hand genommen, um mehr Stellen auszuschreiben. Um die zu besetzen, wird alles Erdenkliche getan, aber wir werden Jahre brauchen, weil zwar die Studienplatzzahlen erhöht wurden, ausgebildete Lehrer aber heute noch fehlen. Wir haben zweitens den Lehrerberuf für Seiten- und Quereinsteiger geöffnet. Auch das hat aber Grenzen. Nicht jeder Bewerber bringt die notwendigen Fähigkeiten mit. Wir haben uns drittens darauf verständigt, die Belastung der vorhandenen Lehrer nicht weiter zu steigern. Damit hätte man schon noch etwas für die Unterrichtsversorgung tun können. Ich habe mich aber bewusst dagegen entschieden, weil ich nicht zusätzlich demotivieren will. Unsere Lehrer sind an der Grenze der Leistungsfähigkeit.

Es geht also weiter bergab?
Es wird täglich an der Stabilisierung gearbeitet. Die Personalsituation wird sich in den kommenden Jahren entspannen, das zeigen Prognosen der Kultusministerkonferenz. Aber bis dahin haben wir eine Durststrecke zu überwinden. Ich verstehe natürlich Eltern, die sagen, mein Kind hat heute den Ausfall. Da versuchen wir mit Instrumenten wie befristeten Einstellungen, Aushilfe oder Flexibilisierungen diese Phase zu überstehen. Das schaffen wir auch. Niemand muss sich Sorgen machen, dass wir Kinder mit mangelnder Bildung ins Leben schicken.

An der Gesamtschule Regine-Hildebrandt in Magdeburg hieß es zuletzt, für eine sechste Klasse werde fürs erste Halbjahr Biologie komplett wegfallen. Das lässt Eltern an Ihrer Zusage zweifeln...
Solche Beispiele werden wir immer wieder haben, manchmal regional, manchmal schulformbezogen. Im konkreten Fall haben wir das Problem, dass Gemeinschaftsschulen die größten Probleme haben, neue Lehrer zu gewinnen. Die Schulform ist für junge Lehrer einfach wenig attraktiv. Auf der anderen Seite ist es legitim und vernünftig, wenn Schulen personellen Engpässen flexibel begegnen. Im Kanon der Naturwissenschaften kann es aus der Not heraus ein halbes Jahr auch mal nur Physik geben, dafür dann im nächsten halben Jahr vermehrt Biologie. Dass die Lehrplanziele am Ende erreicht werden, kann ich allen Eltern zusagen. Und da alle immer von der guten alten Zeit schwärmen: Ich selbst kann noch heute keine Noten lesen, weil ich als Schüler zu DDR-Zeiten zwei Jahre keinen Musikunterricht hatte.

Nun könnte man entgegnen, Biologie ist unverzichtbar – etwa mit Blick auf ein Medizinstudium...
Ich will Fächergruppen nicht gegeneinander ausspielen. Ich will nur darauf hinweisen, dass es ähnliche Probleme auch früher gab.

Die Gewerkschaft GEW erklärte zuletzt, Schüler verlören im Laufe von zwölf Jahren Schulzeit heute bereits mehr als ein ganzes Jahr durch Ausfall. Das widerspricht doch Ihrer These, dass es keine Abstriche gibt.
Das kann ich so nicht nachvollziehen. Was mich manchmal ein wenig stört, ist, dass die GEW sich oft in der Feststellung immer neuer Negativrekorde ergeht. Ja, wir haben Probleme, die will ich nicht beschönigen. Aber ständiger Alarmismus hilft niemandem. Er schreckt junge Leute vom Lehrerberuf ab und demotiviert die vorhandenen Kollegen.

Zu den Zahlen: Wie viele Lehrer werden Sie 2019 eingestellt haben?
Wir haben die Marke von 1000 Einstellungen schon Anfang Dezember erreicht. Ein Beispiel, da die Arbeit des Landesschulamts ja oft kritisch bewertet wird: Nur einen Tag nach Ende der letzten Auschreibung über 800 Stellen am 27. November waren 130 Stellenangebote rausgegangen, eine Woche später bereits 460. Stand heute haben wir knapp 300 Zusagen. Das zeigt, welche Drehzahl wir im Vergleich zur letzten Legislaturperiode erreicht haben. Damals hatten wir pro Jahr nur 80 bis 100 Einstellungen.

Wie sind die Pläne für 2020?
1000 Einstellungen sind die Mindestzahl, die wir auch 2020 erreichen wollen. Was wir aber noch gar nicht angesprochen haben, ist das Thema freiwillige Mehrarbeit. Ein Drittel der infrage kommenden Kollegen hat 2019 unser neues Angebot angenommen, sich aufgelaufene Überstunden auszahlen zu lassen, statt sie abzubummeln – und zwar zu den üblichen Sätzen einer Stunde. Insgesamt konnten wir so 80.000 Stunden abgelten. Das Arbeitsvolumen, das dadurch zusätzlich zur Verfügung steht, entspricht rund 100 Vollzeitstellen im Jahr.

Dafür mussten sie dem Finanzminister entgegenkommen. Ältere Lehrer sollen künftig statt ab 60 erst ab 62 zwei Stunden wöchentlich weniger arbeiten dürfen. Ist es fair, dass ausgerechnet die Älteren den Preis zahlen müssen?
Die Lebensarbeitszeit hat sich in allen Bereichen auf 67 erhöht, also musste die Altersermäßigung mitwachsen. Ich halte das für einen Preis, der akzeptabel ist. Richtig aber ist, wir konnten härtere Einschnitte vermeiden, etwa die pauschale Erhöhung der Arbeitszeiten von Lehrkräften oder etwa die Streichung von Abminderungsstunden für Unterricht in der Oberstufe.

Nochmal zu den Einstellungnen: Im Vergleich etwa zu Mecklenburg-Vorpommern wirkt die Bewerber-Webseite immer noch hinterwäldlerisch. Ständige Bewerbungen etwa waren bisher nicht möglich...
Ich würde ein Fragezeichen setzen, ob eine glanzvolle Homepage wirklich das Entscheidende ist. Wir werden unsere Webseite aber Anfang des Jahres neu gestalten.

Es geht vor allem um die Möglichkeit von Initiativbewerbungen außerhalb von Ausschreibungsfristen...
Die Kritik kann ich nachvollziehen. Es stimmt, es wirkt bewerberunfreundlich, wenn auf der Seite steht: Derzeit sind keine Bewerbungen möglich. Deshalb haben wir das seit Dezember geändert. Auf der neuen Homepage soll das auch grafisch sichtbarer werden. Es wird künftig keinen Tag im Jahr geben, an dem man sich nicht auf Stellen bewerben kann.

Mehr Lehrer bekommen Sie effektiv bislang trotzdem nicht vor die Klassen. Woran liegt‘s?
Blick man allein auf die Zahl der vertraglich gebundenen Kollegen sprechen wir von einer Stabilisierung. Ein Grund dafür, dass wir keinen Aufwuchs hinbekommen, ist neben dem Mangel an Bewerbern die hohe Zahl von Altersabgängen, etwa 1000 pro Jahr. Hinzu kommt ein immenser Anstieg der Elternzeit bei jungen Kollegen. Gegenüber 2016 haben wir eine Verdreifachung, zum Stichtag im September waren es 460. Und: Viele Neueingestellte wollen heute von vornherein in Teilzeit arbeiten. Themen wie „Work-Life-Balance“ stehen viel stärker im Vordergrund als früher. Da hat sich viel gewandelt.

Bei der Lehrerausbildung sind sie vom Wissenschaftsministerium abhängig. Hat ihr Kollege Armin Willingmann (SPD) die Weichen bei Studienplatzzahl und Fächersteuerung richtig gestellt?
Ich werde mir die Zielvereinbarungen die Ministerium und Universitäten gerade final verhandeln, sehr genau anschauen. Bei der Studienplatzzahl haben wir mit 1000 Erstsemesterplätzen ein gutes Level erreicht. Jetzt aber ist die Fächersteuerung das A und O. Wenn 50 Spanischlehrer ausgebildet werden, ich aber nur 10 brauche und gleichzeitig Lehrer in Mint-Fächern oder Deutsch fehlen, kann ich nicht zufrieden sein. Da ist mir vor allem die Uni Halle noch viel zu unflexibel.

Die Uni Magdeburg könnte helfen, etwa in Chemie. Wird die Beschränkung der Lehrerausbildung in Magdeburg fallen?
Dafür ist Herr Willingmann zuständig. Aber ja, ich gehe davon aus.

Wenn die Lage so angespannt bleibt, wie Sie sagen, an welchen Schrauben wollen Sie noch drehen?
Man kann die Personalknappheit auch als Chance begreifen. Schule verändert sich unter diesem Brennglas stärker als in den vergangenen 20 Jahren. Neue Chancen bietet die Digitalisierung. Bis Ende 2021 werden alle Schulen am Glasfasernetz sein. Mit 123 Millionen Euro aus dem Digitalpakt erhalten die Schulen neue Geräte und Technik. Worauf ich hinauswill: Wenn der Mathelehrer mal krank ist, soll künftig etwa auch der Sportlehrer guten Unterricht etwa über Videos oder digitale Arbeitsblätter anbieten können. Mit 14 Sekundarschulen und der Firma „Sofatutor“ haben wir ein Pilotprojekt dazu gestartet. Solche Formate funktionieren in Israel schon gut. Ein anderer Weg ist mehr Praxisnähe. Mit der Einführung des Praxislerntages haben wir einen wichtigen Schritt bereits getan. Wir müssen kreativ sein und bereit, ungeahnte Wege zu gehen.