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Leser helfen Ein letzter Traum wird wahr

Mit dem Wünschewagen wird Menschen in Sachsen-Anhalt in ihrer letzten Lebensphase ein Herzenswunsch erfüllt.

Von Bianca Oldekamp 12.12.2018, 09:19

Dessau l Es ist ein trüber Tag im November, der Himmel in tristes Grau getaucht. Doch die innerliche Vorfreude auf das anstehende Erlebnis kann selbst das nass-kalte Wetter nicht schmälern. Denn für Günther Muschert steht heute ein Besuch des Technikmuseums Hugo Junkers in Dessau an. Dieses Museum erstmals zu besuchen, ist der letzte Wunsch des 65-Jährigen. Er leidet an Krebs im Endstadium und weiß, dass er bald sterben wird.

Seit mehreren Monaten lebt Günther Muschert in einem Hospiz in Sachsen-Anhalt. Er fühlt sich dort wohl und packt in der Gemeinschaftsküche auch mal mit an. Seine eigentliche Leidenschaft gilt allerdings der Technik. Ein Hinweis darauf ist auch im Aufenthaltsbereich des Hospizes zu sehen. Die Nachbildung einer Eisenbahn steht dekorativ auf einem Regal. „Das ist ein Modell der Big-Boy-Dampflokomotive, das ich hier selber zusammengebaut habe“, erzählt Muschert. Den Modellbausatz hatte eine Pflegekraft besorgt.

Sein Interesse für Technik beschränkt sich aber nicht nur auf den Modellbau. Insbesondere Luftfahrttechnik fasziniert den Sachsen-Anhalter. Diese Faszination teilt er mit seinem älteren Bruder Horst Muschert. Kein Wunder also, dass der Bruder dabei ist, wenn der letzte Wunsch des 65-Jährigen erfüllt wird.

Ermöglicht wird das für die Brüder kostenfreie Erlebnis vom Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) Sachsen-Anhalt. Der Landesverband der Hilfs- und Wohlfahrtsorganisation besitzt einen von deutschlandweit 18 sogenannten Wünschewagen. Dabei handelt es sich um einen umgebauten Krankenwagen mit dem gewissen Etwas. Zwar gibt es – versteckt – alle Geräte und Utensilien, die auch in einem normalen Krankenwagen vorhanden sind, zusätzlich aber auch einen Sternenhimmel und einen kleinen Kühlschrank mit Getränken. Denn der Fahrgast und seine Begleitung sollen sich wohl fühlen. Die Kosten für die Fahrt werden ausschließlich durch Spendengelder getragen.

Betreut wird der Fahrgast an seinem Tag von ehrenamtlichen Helfern. In Sachsen-Anhalt gibt es zurzeit 62 Freiwillige, die dabei helfen, letzte Wünsche zu wagen. Unter diesem Motto ist der Wünschewagen, der seit diesem Jahr im Einsatz ist, bisher 15 Mal unterwegs gewesen – auch abseits von Sachsen-Anhalts Straßen. Sechs der Wunschfahrten gingen ans Meer, andere führten den Wünschenden ein letztes Mal in die Arme der Familie und wieder andere haben eine Stadt, eine Veranstaltung oder – wie im Fall von Günther Muschert – ein Museum als Ziel.

Die Jacken haben Günther Muschert und sein Bruder Horst schon an und warten bereits ungeduldig, als Rettungssanitäter Rene Baier und Krankenschwester Monika Steinkamp-Tech mit dem Wünschewagen am Hospiz eintreffen. Sie sind die Ehrenamtlichen, die den Tag zusammen mit den Brüdern verbringen – und sich im gesundheitlichen Ernstfall um ihren krebskranken Fahrgast kümmern. Doch dazu kommt es nicht. Der behandelnde Arzt des 65-Jährigen hatte der Fahrt zugestimmt.

Überhaupt spielt seine Erkrankung an diesem Tag keine Rolle. Und das ist nicht nur das Ziel der Ehrenamtlichen, sondern auch das von Luisa Garthof und ihrer Kollegin Constanze Dietzold vom ASB Sachsen-Anhalt. Sie koordinieren alle organisatorischen Aufgaben, von der Bearbeitung der Wunschanfragen über das Einholen ärztlicher Genehmigungen bis hin zur Anfrage der Ehrenamtlichen.

Neben Rettungsdienstmitarbeitern, Helfern mit Pflegeausbildung und Ärzten können auch Personen, die keine Ausbildung im Medizinbereich haben, Touren des Wünschewagens begleiten. Bevor sie ihre erste Fahrt begleiten, werden sie in Erster Hilfe und darüber hinaus im persönlichen Umgang mit Menschen, die nicht mehr lange zu leben haben, geschult.

Die Liege des Wünschewagens bleibt bei dieser Fahrt unberührt. Günther Muschert und sein Bruder nehmen auf den Sitzen im Rückraum des Wünschewagens platz, an der Decke leuchtet das Sternbild Großer Wagen. Der 65-Jährige ist begeistert. Angekommen am Museum, ist Günther Muschert in seinem Element, die Augen leuchten. Mit Blick auf einen alten Militärjet vor dem Museum erklärt er: „Das ist eine MiG 23 oder 25.“ Seinen Fotoapparat hat er dabei. Schließlich will er diesen Tag festhalten. Es dauert nicht lange, bis die ersten Fotos geschossen sind, während Gerd Fucke, Geschäftsführer des Technikmuseums Hugo Junkers, berichtet, dass die Ausstellunghalle keine der ehemaligen Junkers-Hallen ist, sondern für die DDR-Luftfahrtindustrie erbaut wurde.

Während der Führung durch die Museums-Halle besichtigt die Gruppe unter anderem das letzte erhaltene Versuchs-Stahlhaus, das Junkers Mitte der 1920er Jahre entwickelte. „Es ist beeindruckend, was zu dieser Zeit technisch schon möglich war“, zeigt sich Günther Muschert beeindruckt. Außerdem erfährt die Gruppe, dass sich der als Pionier der Luftfahrt bekanntgewordene Dessauer Hugo Junkers erst im Alter von 50 Jahren mit Flugzeugbau und Luftverkehr beschäftigte. Zuvor gelangen ihm bereits Pionierleistungen in den Bereichen Wärmetechnik und Motoren.

Besonders das Original-Flugzeug JU 52, besser bekannt als „Tante Ju“, das als eine von vier Maschinen aus dem Hartvik-See in Norwegen geborgen wurde, fasziniert Technik-Fan Muschert. Deshalb lassen es sich die Brüder und auch die Ehrenamtlichen nicht nehmen, nach der Führung in der Maschine Platz zu nehmen. „Diese Maschine würde ich gern mal als Modell nachbauen“, sagt Günther Muschert und setzt ganz auf die Mitarbeiter im Hospitz: „Die finden im Internet bestimmt einen Bausatz.“

Den Abschluss des Tages bildet ein gemeinsames Essen in einem Dessauer Restaurant. Der 65-Jährige bestellt sich ein Schnitzel und resümiert die Eindrücke des Museums. Er hat Tränen in den Augen. Zurück in das Hospiz nimmt er Erinnerungen mit – im Kopf und auf seinen Fotos. Erinnerung an einen Tag, der ganz im Zeichen seiner Technik-Leidenschaft stand, wie er ihn bis zum nahenden Ende seines Lebens wohl nicht mehr erleben wird.

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