1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Skelett im Rollkoffer

LKA Skelett im Rollkoffer

Steffi Burrath rekonstruiert als einzige Spezialistin innerhalb der Polizei die Gesichter der Toten. Ausgebildet wurde sie beim FBI.

Von Matthias Fricke 28.06.2016, 01:01

Magdeburg l Es ist Ende September 2014, als Spaziergänger auf einem alten Güterbahnhof in Berlin-Spandau einen alten schwarzen Rollkoffer ent­decken. Dieser liegt etwas versteckt im Gebüsch der Industriebrache. Kurz nach dem Öffnen alarmieren sie umgehend die Polizei. Im Koffer liegt eine teil­skelettierte Leiche. Der Rechtsmediziner kann später die Liegezeit nur schwer bestimmen. Es könnten Monate oder vielleicht Jahre sein. Eventuell ist der Mann „kaukasoid“, was der Fachbegriff für europäische Abstammung bedeutet.

Die Polizei hat zunächst keinerlei Anhaltspunkte, wer der Mann sein könnte. So wenden sich die Ermittler Anfang 2015 an das Landeskriminalamt in Sachsen-Anhalt. Sie wissen, dass dort die einzige polizeiinterne Spezialistin für forensische Weichteilrekonstruktion in Deutschland sitzt.

Die ursprüngliche Modezeichnerin Steffi Burrath stieß Mitte der neunziger Jahre zum LKA Sachsen-Anhalt und kümmerte sich zunächst um die Phantombilderstellung. Im Sommer 2002 reiste die heute 53-Jährige zu einem Speziallehrgang für forensische Gesichtszeichnungen des FBI nach Quantico im US-Bundesstaat Virginia. Sie lernte dort anhand eines Schädels so zu rekonstruieren, dass Angehörige oder Zeugen den Vermissten wieder erkennen würden.

So bekommt die LKA-Spezialistin auch den Schädel der Kofferleiche von Spandau auf den Tisch. Sie studiert, was die Spurensicherung und Rechtsmedizin notiert hat, und liest davon, dass der Unbekannte 1,70 Meter bis 1,75 groß war. Er trug einen Schlafanzug und musste recht schlank sein. Dafür spricht die Konfektionsgröße. Aufgefundene etwa fünf Zentimeter graumelierte lange Haare geben ihr einen weiteren Hinweis darauf, wie der Tote ausgesehen haben könnte. Einen ganzen Tag lang recherchiert die 53-Jährige, um sich ein Bild davon zu machen, was später unter ihren Händen als Gesicht entstehen soll.

„Jede Kleinigkeit kann helfen, um mir ein Bild von dem Toten zu machen“, sagt sie. Bei einem ihrer 35 Fälle, die sie in den vergangenen 14 Jahren auf dem Tisch hatte, war zum Beispiel auch der Totenschädel einer Frau – gefunden in einer Jauchegrube. Nur noch einige Kleidungsstücke konnten gesichert werden. Diese halfen aber weiter. Steffi Burrath: „Ich habe mir also auf allen möglichen alten Klassenfotos angesehen, wann solche Kleidung getragen wurde. Als das feststand, konnte ich mir ein Bild von der möglichen Frisur machen.“ Mit dem daraufhin erstellten Phantombild fanden sich schnell Zeugen, die die Frau identifizieren konnten.

Auch bei der Kofferleiche ist die Hoffnung entsprechend groß. Die Spezialistin, sie ist im Landeskriminalamt in erster Linie als „Sachverständige für visuelle Personenidentifizierung“ angestellt, vermisst den Schädel und setzt daraufhin sogenannte Weichteilmarker.

Die Grundlage für diese abgezirkelte Millimeterarbeit legte der Bonner Professor Richard Helmer, ein deutscher Anthropologe. Er untersuchte 163 lebende Patienten per Ultraschall und nahm Messungen der Weichteile vor. Damit erarbeitete Helmer für die Gesichtsrekonstruktion 34 Mess­punkte am Schädel.

Damit wird die mögliche Stärke der Weichteilschicht des Gesichtes ermittelt. Die 34 Identifizierungspunkte gelten für alle Altersgruppen und beide Geschlechter.

An eben jenen Identifizierungspunkten kann Burrath nun die spätere Gesichtsform der Kofferleiche erstellen. Dazu dient ein 2D-Foto als Grundlage, um später mit dem Transparentpapier das Gesicht zeichnen zu können. Wofür es keine wissenschaftlichen Hilfen gibt, sind Hautbeschaffenheit und Haarfarbe.

Im besten Fall findet die Polizei am Fundort ein Haar oder private Gegenstände des Toten, die darüber Auskunft geben können, wie im Detail der Mensch ausgesehen haben könnte. Geben die Ermittlungen einen Anhaltspunkt darauf, dass der Tote zum Beispiel als Seemann gearbeitet hat, dürfte die Haut rauer ausfallen als die eines Büro­mitarbeiters. „Das sind auch alles Erfahrungswerte, die hier mit einfließen“, sagt sie.

Und mit diesen liegt die Spezialistin ganz offensichtlich nicht schlecht. 60 Prozent ihrer Rekonstruktionen führten am Ende dazu, dass der Tote doch noch identifiziert werden konnte. Vor allem bei Obdachlosen und aus dem Ausland stammenden Menschen, zu denen es keine Vermisstenanzeigen gibt, sei die Identifizierung der Leichen sehr schwer.

Der Ursprung der Gesichtsweichteilrekonstruktion liegt übrigens in der früheren Sowjet­union. Michail Michailowitsch Gerassimow erarbeitete in den Vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Gesetzmäßigkeiten, auf deren Grundlage sich menschliche Gesichter auf Knochenbasis nachbilden lassen. Er verwendete zur Rekonstruktion damals Knetmasse, eine Methode, die inzwischen nur noch selten von Steffi Burrath angewendet wird. „Knete ist einfach ungenauer“, meint sie.

Inzwischen hat die Expertin auch weit ältere historische Fälle. Dazu gehört „Moora“. Das Mädchen aus dem Uchter Moor ist der bedeutendste Moorleichenfund Norddeutschlands. Es gibt bereits künstlerische Darstellungen – nur wie sah die schöne Unbekannte wirklich aus?

Die Pionierin der deutschen Kopfmalkunde beteiligte sich im Oktober 2010 am Forschungsprojekt „Moora“. In einem Buch sind bereits alle Erkenntnisse zum Skelett und den näheren Umständen festgehalten. Nur ein Bild konnten sich die Anthropologen bisher nicht so recht machen. „Moora muss wegen der damals vorherrschenden Hungersnöte eine sehr schlanke Person gewesen sein und war ein junges Mädchen im Alter von 16 und 19 Jahren“, so Burrath.

Mehrere Wissenschaftler beteiligten sich an der Weichteilrekonstruktion und am Ende stand ein interessantes Ergebnis fest: Auf fast allen Bildern waren zumindest die Gesichtszüge ähnlich. Nur sicher wird am Ende niemand sagen können, wie Moora tatsächlich aussah. Es fehlen schließlich die Zeugen.

Anders als im Fall der Kofferleiche von Spandau. Im Sommer 2015 gelingt Steffi Burrath ein Bild von dem Mann zu erstellen. Die Ermittler vor Ort veröffentlichen es schließlich und landen einen Treffer. Der Fall nimmt eine überraschende Wende. Der 72-Jährige verstarb eines natürlichen Todes, anders als bisher angenommen. Und es stellt sich heraus: Der Sohn hatte die Leiche im Koffer entsorgt, um die Rente des Mannes weiter zu kassieren. Die Sozialleistungen wurden weiter gezahlt, weil der Mann nie für tot erklärt wurde.

Es besteht offenbar durchaus Bedarf für die Leichenrekonstrukteure. Nach Angaben des BKA gelten aktuell 1398 Leichen in ganz Deutschland als nicht identifiziert. Bei einem Teil der Funde, wie der skelettierten Hand im Wels bei Dessau, kann nur der Zufall helfen. Wenn zum Beispiel die sichergestellte DNA einen Treffer in der Datenbank ergibt.