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Luchse Die schwierige Rückkehr der Harz-Tiger

Seit 20 Jahren gibt es wieder Luchse im Harz. Rund 90 sind es heute. Dass der Bestand überlebt, ist aber alles andere als sicher.

Von Alexander Walter 21.06.2020, 00:39

Magdeburg l Es gibt Berufe, in denen sich in einem einzigen Augenblick Schweiß und Mühe von Jahrzehnten auszahlen können. Ole Anders hat so einen Beruf. Sein Moment kam, als er im Juni vor neun Jahren mit Kollegen durch den Harzwald am Nordhang des Brockens streifte.

Das Team ist damals auf der Suche nach einer mit einem Sender ausgerüsteten Luchsin, die sich seit Tagen verdächtig wenig bewegt. Doch statt der großen Katze entdecken die Kollegen unerwartet in einer Vertiefung ein zartes, flauschiges Etwas.

Es handelt sich um ein unbeholfenes Wesen mit großen Augen und dicken Tapsen. „Es war nicht größer als eine Hauskatze und konnte nicht laufen“, erzählt Anders. Mitten im zerklüfteten Gelände findet der Förster damals ein Luchsjunges in seinem natürlichen Geheck.

Geheck – so nennen Fachleute die Verstecke, in denen Luchse ihren Wurf ablegen. Für Anders ist der Anblick gleich doppelt erhebend: Das Luchsjunge stammt von einer Katze, die er und sein Team bereits für unfruchtbar gehalten hatten. Und es kommt noch besser: Als die Menschen gegangen sind, tappt die Luchsmutter in eine Fotofalle.

Auf Bildern ist später zu sehen, wie sie neben dem entdeckten Jungtier auch ein zweites und drittes Junges im Maul umherträgt. Es sind diese Momente, für die Anders seinen Job liebt. Sie sind die Bestätigung dafür, dass seine Arbeit Früchte trägt.

Anders Arbeit, das ist seit der Jahrtausendwende das Luchs-projekt Harz – eines der größten Wiederansiedlungsvorhaben für den Eurasischen Luchs in Deutschland. 24 Tiere der größten Katzenart Westeuropas aus Wildparks wurden damals, von Niedersachsen initiiert, binnen sechs Jahren rund um den Brocken ausgesetzt. Es war auch ein Stück Wiedergutmachung an einem Wesen, das der Mensch seit dem Mittelalter erbarmungslos verfolgt hatte.

Einst vom Nordkap bis auf den Balkan heimisch, galt die große Katze mit den typischen Ohrpinseln seit mehr als 200 Jahren in Mitteleuropa als weitgehend ausgerottet. Wie gnadenlos der Mensch auf dem Weg dorthin vorging, macht das Schicksal des letzten echten Harz-Luchses deutlich. Die Jagd nach ihm im Frühjahr 1818 wurde zum gesellschaftlichen Großereignis. 100 Jäger und 80 Treiber nahmen daran teil. Nach elf Tagen Hatz war es ausgerechnet ein Förster, der den Luchs nahe Lautenthal bei Goslar erschoss.

Diese Zeiten sind aus Sicht des Försters Anders Gott sei Dank vorbei. Heute ist der Luchs durch das Bundesnaturschutzgesetz streng geschützt. Rund 90 Harz-Tiger streifen inzwischen dank der Ansiedlung wieder durch die Wälder um das Brockenplateau. Im Harz finden sie gute Bedingungen vor, sagt Ole Anders: „Es gibt genügend Wild, vor allem Rehe“, die Hauptbeute des Luchses. Wegen der hohen Wilddichte bekommen Luchsmütter statt der üblichen zwei oft drei oder vier Jungtiere. Ein Luchs jagt dabei ganz ähnlich wie eine Hauskatze, erzählt der Förster: „Er lauert, pirscht sich heran und scheint oft fast zu erstarren, bevor er seine Beute in einem einzigen gewaltigen Energie-Ausbruch überwältigt.“

Darin unterscheidet sich der Luchs auch vom Wolf. Während die sozialen Wölfe große Beutetiere in Aufgabenteilung oft über weite Strecken hetzen, ist der einzelgängerische Luchs ein Überraschungsjäger.

Luchse, die etwa so groß werden wie ein mittelgroßer Hund, können mit dieser Jagdtechnik selbst Tiere reißen, die deutlich größer sind als sie selbst: etwa Rothirsch-Kälber. Trotz des wachsenden Bestands im Harz ist das Überleben der Art in Sachsen-Anhalt allerdings keineswegs sicher. Auch das liegt im Verhalten begründet: „Luchse sind Waldbewohner, anders als Wölfe meiden sie Wanderungen über offene Ebenen“, sagt Ole Anders.

Eine Ausbreitung nach Norden und Osten etwa in Richtung Altmark ist damit unwahrscheinlich. Die offenen Felder der Börde schrecken Luchse ab. Nur männliche, meist jüngere, Tiere ziehen mitunter auch weitere Strecken auf offenen Ebenen.

Naheliegend ist die Abwanderung damit eher Richtung Süden und Westen. Dort schließen sich die Wälder Thüringens, Niedersachsens und Hessens an. Eine Ausbreitung der Katzen in diese Richtung wäre auch sinnvoller, sagt Ole Anders. Denn: Im Bayerischen Wald und im Pfälzer Wald, leben Luchse anderer Ansiedlungsprojekte in Deutschland.

Der Kontakt zu ihnen könnte noch zur Überlebensfrage für das Harzer Luchsprojekt werden. Derzeit zählt das Vorkommen laut seinem Projektchef zwar zu den genetisch vielfältigsten in Mitteleuropa. Bleibt die Vernetzung mit anderen Beständen aber langfristig aus, könnten die Harzer Luchse genetisch verarmen – mit möglicherweise gravierenden Folgen für die Gesundheit der Tiere.

Das Problem sieht auch Wilko Florstedt, Geschäftsführer des Landesjagdverbands. Er hält die vom Luchsprojekt ermittelte Bestandszahl des Harz-Vorkommens für zu niedrig. Tatsächlich sei der Populationsdruck bereits so hoch, dass Tiere versuchen abzuwandern, sagt er. Ein Hinweis auf die hohe Luchsdichte seien die Jagdzahlen, sagt Florstedt. „Rehwild spielt durch die Aktivität der Luchse kaum noch eine Rolle.“ Auch das von Touristen gern beobachtete Muffelwild, etwa im Selketal, sei örtlich bereits weitgehend verschwunden.

Florstedt spricht sich deshalb nicht für eine Bejagung des Luchses aus. Aber: Er fordert, die Abwanderung von Jungtieren zu erleichtern. Infrastrukturprojekte, wie die B 6n oder die A 7 erschwerten es Luchsen, sich neue Reviere zu suchen, selbst wenn sie es wollten. Florstedt fordert Querungshilfen, etwa in Form von Wildbrücken.

Dass das sinnvoll sein könnte, zeigen Zahlen des Luchsprojektes zu tot aufgefundenen Tieren: Von rund 60 Funden seit der Wiederansiedlung im Harz fiel fast jeder zweite einem Zusammenstoß mit Auto oder Bahn zum Opfer. Ähnlich viele Luchse gingen nur an Krankheiten, wie der Fuchsräude, zugrunde.

Als gesichert betrachtet auch Sachsen-Anhalts Umweltministerin Claudia Dalbert die Wiederansiedlung angesichts solcher Probleme nicht: „Sie kann als Erfolg angesehen werden“, sagt sie. Gleichwohl sei in Anbetracht der insgesamt geringen Populationsgröße auch eine Umkehr des positiven Bestandstrends denkbar. „Der Luchs steht auf der Roten Liste der gefährdeten Tiere Sachsen-Anhalts und gilt weiterhin als ‚Vom Aussterben bedroht“‘, betont die Grünen-Politikerin. Das Land trage daher besondere Verantwortung zum Schutz der Tiere.

Immerhin: Anders als beim Wolf gibt es heute nur noch selten Kritik an der Wiederansiedlung des Luchses im Harz, sagt Ole Anders. Zwar reißen auch Luchse manchmal Schafe oder Ziegen und können dabei bis zu drei Meter hohe Zäune überspringen. Nach Angaben des Umweltministeriums kommen solche Ereignisse aber nur gelegentlich vor. Illegale Abschüsse – ein Hinweis auf möglichen Frust – gibt es, anders als in Bayern, selten. Nur ein Fall ist bislang im Luchsprojekt bekannt.

Doch wie sieht es mit der Gefahr für Menschen aus? Ole Anders gibt Entwarnung. Luchse seien dämmerungsaktiv und scheu, sagt er. Einen Konflikt mit Menschen habe es in den 20 Jahren seit der Rückkehr der Tiere in den Harz nie gegeben. Wohl aber eine Häufung von Sichtungen, vor allem in der Dämmerung.

„Wer einen Luchs sehen will, könnte an Plätzen fündig werden, die auch wir Menschen mögen“, sagt Anders. Wie ihre kleinen Verwandten, die Hauskatzen, liegen Luchse gern auf erhöhten Plätzen mit Überblick, und wie Katzen sonnen sie sich gern. Wer auf ein Tier trifft, sollte sich dennoch zurückhalten, sagt Anders. „Luchse sind wilde Raubtiere, es zählt der gesunde Menschenverstand“.

Der Luchsprojektchef selbst musste übrigens zwölf Jahre warten, bis er seinen ersten Luchs in freier Wildbahn zu Gesicht bekam. Die Premiere, verlief unspektakulär: „Ich war auf der Hochharzstraße bei Torfhaus unterwegs, als plötzlich einer über die Straße lief“, sagt Anders.

Wer nicht so lange warten warten will, kann die Tiere im Schaugehege des Nationalparks bei Bad Harzburg besuchen.

Informationen sind hier im Internet erhältlich: