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MedizinEin Magdeburger Chefarzt und die Angst

Der Wirbelsäulenchirurg Jörg Franke aus dem Städtischen Klinikum erzählt von seiner Arbeit und seiner Liebe zu Magdeburg.

Von Kathrin Wöhler 14.07.2019, 01:01

Magdeburg | Als Assistenzarzt wollte Dr. Jörg Franke der beste Wirbelsäulenchirurg der Welt werden. Heute sagt er: Es gibt Wichtigeres. Im Gespräch erzählt der Chefarzt für Orthopädie II/ Wirbelsäulenchirurgie am Städtischen Klinikum Magdeburg, wie er mit Angst umgeht, warum er trotz internationaler Jobangebote nach Magdeburg zurückkam – und dass er sich darauf vorbereitet, einmal einen schlimmen Fehler zu begehen.

Herr Dr. Franke, es ist jetzt 16 Uhr, gerade wurde für 18 Uhr eine OP anberaumt und eben verließ ein Arzt Ihr Büro, mit dem Sie Englisch sprachen. Ein typischer Arbeitstag für Sie?

Ein typischer Tag in meinem Leben. Ich unterscheide nicht in Arbeit und Freizeit. Es gibt keine Ruhe – nur Aufgaben, und letztlich mehr oder weniger hohe Berge davon.

Ihnen wird eine große mentale Stärke nachgesagt. Stress kommt in Ihrem Wortschatz nicht vor. Wie schaffen Sie das?

Ich mache alles gern, was ich für sinnvoll und richtig erachte. Menschen nach bestem Wissen zu behandeln, Kollegen anzuleiten, in Forschungsgruppen nach Antworten zu suchen – das alles macht mir große Freude. Wenn es eine Belastung wäre, könnte ich nicht mehr gut sein in dem, was ich mache.

Woher nehmen Sie diese Energie?

Ich mache mir weniger Gedanken als andere, glaube ich, und hinterfrage nicht alles – das verschwendet nur Kraft. Vermutlich schaffe ich deshalb etwas mehr. Ich überbuche den Tag grundsätzlich, wie eine Fluggesellschaft. Zu 95 Prozent löst sich das auf, zum Beispiel, wenn ein Meeting abgesagt wird. Die restlichen fünf Prozent müssen meine grauen Zellen lösen (lacht) – das ist ein kalkuliertes Risiko, aber ich lebe damit und weiß, dass es meistens klappt.

Patienten reisen aus dem In- und Ausland nach Magdeburg, um von Ihnen behandelt zu werden.

Ja, und es freut mich! Aber ich habe mir inzwischen abgewöhnt, davon nur geschmeichelt zu sein. Meine Kollegen, die ich häufig selbst ausgebildet habe und sehr schätze, können die allermeisten OPs ebenso gut wie ich durchführen. Ohne mein Team ginge vieles nicht, da bin ich sehr dankbar.

Macht Sie das Heilen glücklich?

Es freut mich enorm und schafft Zufriedenheit, wenn ich richtig liege. Denn ein Schmerz an der Wirbelsäule kann unzählige Ursachen haben. Es ist extrem schwierig, den exakten Auslöser zu finden. Schauen Sie: Die Hüfte hat drei Bewegungsrichtungen. Bei der Wirbelsäule gilt dies für jedes der 26 Segmente. Jedes Segment wiederum besteht aus drei Gelenken, oft sind mehrere Segmente betroffen. Außerdem reden wir hier von unserem Statik-Organ, in dem auch noch unser zentrales Nervensystem läuft. Wenn ich also operiere, möchte ich exakt dort ansetzen, wo die Ursache liegt.

Woher nehmen Sie die Sicherheit, mit Ihrer Diagnose richtig zu liegen, bevor Sie den ersten Schnitt setzen?

Ich denke, es geht hauptsächlich um Erfahrung. Wenn Sie im Rahmen der Diagnostik – also über MRT, Fragen stellen und Untersuchung des Patienten – bestimmte Probleme hundert oder tausend Mal gesehen haben, entwickelt man eine gewisse Sicherheit.

Im Vorgespräch erzählten Sie, dass Sie heute schon dreimal eine hochsensible Rückenmarkshaut in der Hand hatten – so beiläufig, als ginge es um Ihren Kugelschreiber. Und tatsächlich bestätigen Ihre Kollegen: Der Franke zittert nie.

Ich glaube, eine solche Ruhe ist bei allen Menschen nötig, die etwas Lebenswichtiges operieren. Aber wir reden ja auch nicht nur von der Rückenmarkshaut, der man sich nur sehr vorsichtig nähern darf. Großen Respekt habe ich auch vor Gefäßen.

Kommen diese Ihnen oft in die Quere?

Wenn man von vorn operiert, schon. Ich muss dann Gefäße und Organe beiseite schieben. Normalerweise lässt sich alles einige Zentimeter bewegen, aber mit zunehmendem Alter sinkt auch die Flexibilität eines Gefäßes, zum Beispiel durch Vernarbungen und Ablagerungen. Reißt dabei eine Arterie oder eine größere Vene, müssen alle im OP die Nerven behalten.

Wie muss man sich diese Situation im OP-Saal vorstellen?

Wir sind ein eingespieltes Team, hundertfach erprobt. Aber natürlich sehe ich in solchen Situationen auch Angst in den Augen meiner Kollegen. Nur ist dafür keine Zeit! Jeder muss sich zwingen, diese Angst zu überwinden.

Und wenn Sie einmal nicht schnell genug sind?

Darüber denke ich nicht oft nach. Angst hemmt. Die einzige Variante, den Job gut zu machen, ist, mit dem nötigen Respekt zur Arbeit zu gehen, an manchen Tagen auch mit größerem als an anderen. Sonst werden wir leichtfertig. Das sage ich auch meinen Assistenzärzten. Aber es kann trotzdem passieren, dass ich einen schweren Fehler mache – vielleicht sogar mit Sicherheit. Darauf versuche ich mich innerlich und fachlich vorzubereiten, um dann hoffentlich sagen zu können: Ich konnte es nicht verhindern.

Sie könnten sich immer hinter den – vorher besprochenen – Operationsrisiken verstecken ...

Nein, manchmal gibt es nun mal Schwierigkeiten, Lähmungen zum Beispiel. Das muss man aushalten können. Ich spreche immer offen mit meinen Patienten, auch wenn das schwer ist. Meine Mutter hat mich dabei sehr geprägt: Sie hatte in ihrem ärztlichen Dasein einen Riecher, wenn es problematisch wurde – und hat sich gekümmert. Als Chefarzt bin ich immer schuld, und ich weiß: Wegwarten klappt nie.

Stimmt es, dass Ihnen Befindlichkeiten furchtbar auf den Nerv gehen?

Absolut – ohne sie wäre unser Leben 60 Prozent leichter. Damit meine ich Sätze wie „Das habe ich aber schon immer so gemacht“ oder „Das war ich nicht“. Sie regen mich genauso auf wie Besitzstandwahrer: Menschen, die im Kopf betoniert sind, Angst vor Fehlern oder Veränderung haben, anstatt bewusst über ihren Schatten zu springen. Das ist für mich verantwortungsloses Dahinvegetieren. Es kostet mich so viel Kraft – und heute mit fast 50 mehr als vor 20 Jahren –, mit solchen Menschen Dinge zu bewegen.

Sie sprechen über die Verwaltung?

Dieses Phänomen ist abteilungsunabhängig. Da hat im Gesundheitssystem die Vorschrift schon längst den Verstand abgelöst, wir sind massiv überbürokratisiert.

Klingt, als ob Sie sich gerne anlegen ...

Ich bin zweifellos anstrengend für meine Umgebung (lacht). Aber etwas im Orbit zu belassen, ist doch viel schlimmer zu ertragen. Wenn ich der Meinung bin, es gibt einen Missstand, dann geht es nur mit Namen und Adressen. Da muss man auch mal zum Geschäftsführer. Und sehen Sie: Ich habe meinen Job immer noch.

Gemeinsam mit der Europäischen Wirbelsäulengesellschaft haben Sie einen Standard entwickelt, der die Versorgung der Wirbelsäule vereinheitlicht. Wozu?

Damit Patienten überall in Europa dieselbe Versorgung bekommen und nicht länger von unterschiedlichen Fachärzten operiert werden, z.B. von Unfallchirurgen, Neurochirurgen und Orthopäden. Dazu belegen Ärzte entsprechende Kurse und werden dafür zertifiziert. Das bringt Verlässlichkeit ins System: Ein zertifizierter türkischer Arzt kann in ganz Europa arbeiten, denn die Wirbelsäulengesellschaften fast aller europäischen Länder haben unser Zertifikat anerkannt. Damit sind wir weiter als die EU – bei uns ist Großbritannien an Bord (lacht). Am Ende dieses Weges steht hoffentlich ein Facharzt für Wirbelsäulenchirurgie stehen, aber das ist Zukunftsmusik.

Sie stecken viel Zeit in solche Projekte, fliegen dazu bis Asien und in die USA, um Ärzte anzuleiten und auf Kongressen zu reden. Sie betreuen mehrere internationale Studien und arbeiten an einer Zertifizierung auch für die konservative Wirbelsäulenbehandlung.

Mein Urzweck ist es, zu heilen. Aber ich will auch etwas bewegen! Für mich ist das Ziel das Ziel, nicht der Weg. Dafür muss man vorne spielen, oder oben, wenn Sie so wollen. Aber glauben Sie mir, ich denke nicht in Karriereschritten, ich lebe situativ. Was mir sinnvoll erscheint, gehe ich an.

Ein Sprichwort lautet: Man kann nicht auf zwei Hochzeiten tanzen. Ein guter Freund sagt über Sie: Bei Jörg sind es mindestens fünf.

Könnte schon sein: Ich möchte helfen, heilen, auslösen, etwas schaffen und ermöglichen. Ich möchte Menschen verbinden. Es gibt viele, die ähnlich ticken, ob Ärzte, Politiker, Wissenschaftler, Unternehmer. Leute, die auf ihrem Gebiet etwas bewegen wollen und können. Solche Menschen reizen mich. Dafür lohnt sich jede Flugmeile.

Sie waren Facharzt am Universitätsklinikum, ab 2012 Direktor der Klinik für Wirbelsäulenchirurgie am Klinikum Dortmund. Sie hatten Jobangebote unter anderem aus München, London und der Schweiz. Warum sind Sie 2016 trotzdem nach Magdeburg zurückgekehrt?

Ich wollte zurück zu den Menschen, die mir wichtig sind. Meine Familie lebte weiterhin hier, und ich habe in Magdeburg seit meiner Jugend einen bemerkenswert treuen Freundeskreis. Das rührt und ehrt mich und es macht einfach Spaß, mit den Jungs beim Bier an der Elbe zu sitzen.

Ich bin unheimlich gerne Magdeburger. Ich gehe zu den Spielen des FCM, zu unseren Handballern und zum Pferderennen im Herrenkrug, ich liebe das New-Orleans-Jazz-Festival. Oder nehmen Sie das Crafts-Beer-Festival – einfach toll, dass sich Menschen hinsetzen und an neuen Biersorten tüfteln! Diese Stadt gibt mir unheimlich viel, und ich möchte sie auf der Weltkarte der Wirbelsäulenchirurgie ganz nach vorne bringen. Es gibt dafür brillante Ideen und die richtigen Leute. Dafür stehe ich gerne um 5 Uhr auf.