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Medizinforschung Dem plötzlichen Kindstod auf der Spur

Bevor die Bauchlage als Risikofaktor entlarvt wurde, rettete die Intuition einer Mutter in der DDR Tausenden Babys das Leben.

Von Janette Beck 11.09.2018, 01:01

Magdeburg l In seiner Forschungsarbeit hat Kinderarzt Gerhard Jorch früh den Fokus auf die ganz Kleinen gerichtet. Seine Doktorarbeit beschäftigte sich mit den Ursachen und der Prävention von Hirnschäden bei Frühgeborenen. Zudem sagte er dem plötzlichen Kindstod (Sudden Infant Death Syndrome/SIDS) als eine der häufigsten Todesursachen bei Säuglingen den Kampf an. So gab es in Deutschland 1990 etwa 1300 Sterbefälle.

Auffällig dabei: In den alten Bundesländern war die Zahl höher als in der ehemaligen DDR. Aus einem, wie sich herausstellen sollte, trivialen Grund: Die Schlaflage der Babys spielt eine entscheidende Rolle. Jorch hatte in einer von ihm Ende der 1980er Jahre initiierten Fallstudie zwei SIDS-Risikofaktoren herauskristallisiert: „Neben dem Rauchen waren die meisten Kinder dadurch gestorben, dass sie beim Schlafen auf dem Bauch gelegen und nicht genug Sauerstoff aufgenommen haben. Die Säuglinge sind quasi im Bettchen lautlos erstickt.“

Als Quintessenz seiner Forschungsergebnisse an der Uni Münster sprach der Kindermediziner 1991 im Ärzteblatt sowie im Magazin „Spiegel“ eine „Warnung vor Bauchlage als bevorzugter Lagerung des Säuglings im Schlaf“ aus. Aufschrei und Skepsis waren zunächst groß, denn bis dahin war die Bauchlage von internationalen Fachärzten als ideale Schlafposition für Babys angepriesen und empfohlen worden.

„Damals rief mich einer der führenden Kinderärzte an und sagte: ‚Nach diesem Artikel sind Sie verbrannt!‘“, erinnert sich der Rheinländer. Überzeugt haben dann aber die Fakten: Innerhalb eines Jahres wurde in Nordrhein-Westfalen die Zahl plötzlicher Kindstode von 500 auf 270 gesenkt. Und Jorch wurde als „Babyretter der Nation“ gefeiert.

Als die Koryphäe 1998 zum Professor an die Universität Magdeburg berufen und dort Direktor der Klinik für Allgemeine Pädiatrie und Neonatologie wurde, wollte er, ehrgeizig wie er ist, „alles ändern“, gesteht er mit einem Augenzwinkern Naivität und Unwissenheit ein. Denn schon nach kurzer Zeit stellte Jorch fest: „Die sind echt gut hier im Osten! Vor allem die Schwestern haben sich schnell meinen Respekt verdient. Sie haben eine sehr hohe Qualität und verfügen über ein profundes Fachwissen und eine hohe Eigenverantwortlichkeit. Die machen zwar einiges anders, aber auf keinen Fall schlechter.“

Außerdem nahm der Experte mit Verwunderung wahr: „Der plötzliche Kindstod spielte hier fast gar keine Rolle.“

Warum? Dieser Frage wollte Jorch auf den Grund gehen und stellte gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Dagmar Fischer Nachforschungen an. Um 2003 das Rätsel zu lösen: Bereits 1972 hatte nämlich das DDR-Ministerium für Gesundheitswesen eine „Richtlinie für die Anwendung der Lagerung bei Säuglingen als prophylaktische Maßnahme“ erlassen. Diese enthielt detaillierte Anweisungen, die einem weitgehenden Verbot der Bauchlage gleichkam.

Impulsgeberin war Elfriede Garreis, Direktorin der Hauptabteilung Soziale Betreuung. „Die gute Frau war sieben Säuglingstoden in einer Krippe nachgegangen und hatte letztlich aus dem Bauch heraus die Abkehr von der Bauchlage empfohlen“, muss Gerhard Jorch konstatieren, dass eine ganz normale Frau und Mutter rein intuitiv Tausende Familien in der DDR vor dem wohl schwersten und schmerzhaftesten Schicksalsschlag überhaupt, den plötzlichen Kindstod, bewahrt hat.

Den Erkenntnissen, dass Rauchen sowie die Bauchlage die häufigsten Gründe sind, warum Babys am plötzlichen Kindstod sterben, sowie der entsprechenden Aufklärung der Eltern ist es also zu verdanken, dass heute in Deutschland nur noch wenige Säuglinge am plötzlichen Kindstod sterben. Laut Jorch sind es etwa 200 pro Jahr. In Magdeburg mussten er und sein Team in all den Jahren gar nur drei Fälle betrauern.

Auch wenn schon viel erreicht ist, will der in Rente gehende Direktor der Kinderklinik der Uni seine Kollegen motivieren, weiter nach möglichen SIDS-Ursachen zu forschen. „Zwar konnte er in keinem anderen Bereich der Kindermedizin die Anzahl der Todesfälle so drastisch senken wie hier. Dennoch: Jeder tote Säugling ist einer zu viel.“