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Meinungs-Monitor So ticken die Sachsen-Anhalter

Forscher der Uni Halle haben den Sachsen-Anhaltern 30 Jahre nach der Wiedervereinigung in die Seele geschaut: Wo steht das Land heute?

Von Alexander Walter 11.12.2020, 00:01

Magdeburg l 1142 Sachsen-Anhalter haben die Forscher der Universität Halle befragt. Als das im Spätsommer geschah, war die existenzielle Krise der Kenia-Koalition – ausgelöst durch den Rundfunkstreit – allenfalls am Horizont erkennbar. In der Wahrnehmung der aktuell größten Probleme in Sachsen-Anhalt spielt sie daher auch keine Rolle.

Zu den größten Problemen befragt, nennen die meisten Bürger (16 Prozent) stattdessen die Corona-Pandemie, die Wirtschaft und öffentliches Leben in der Tat beeinflusst, wie selten eine Krise zuvor. Dicht dahinter folgen Sorgen um Zuwanderung, Ausländer und Flüchtlinge – auch fünf Jahre nach der Migrationskrise 2015 beschäftigt das Thema immer noch 15 Prozent der Sachsen-Anhalter am meisten von allen Problemfeldern.

Mit deutlichem Abstand folgen die Sicherung oder Schaffung von Arbeitsplätzen sowie die Stärkung der Wirtschaft. Zusammen kommen diese themenverwandten Felder mit 17 Prozent sogar auf die meisten Nennungen. Eine allenfalls untergeordnete Rolle im Bewusstsein der Bürger spielen dagegen die Digitalisierung oder die im politischen Streit gern aufgegriffene Debatte um die Angleichung von Ost und West.

Wer aber kann das für den einzelnen Bürger jeweils wichtigste Problem am besten lösen? Themenübergreifend trauen die Sachsen-Anhalter das am häufigsten der CDU zu. Jeder vierte im Land sieht das so. Mit dichtem Abstand folgt eine Koalition aus mehreren Parteien, ohne dabei zu bestimmen, welche Partner zusammenkommen sollen.

Bedenklich: Immerhin 16 Prozent der Landesbürger trauen gar keiner Partei zu, ihr wichtigstes Problem lösen zu können. Und: Die Oppositionsparteien Linke und AfD bekommen häufiger die Kompetenz zugeschrieben, drängende Probleme zu lösen als die Kenia-Koalitionspartner SPD und Grüne.

Noch bedenklicher wird das Bild bei der Frage danach, welche Partei die besten Lösungen für die fünf wichtigsten Sachfragen – Zuwanderung, Bildung, Arbeit, Wirtschaft und Soziales – entwickeln kann.

Auch hier liegt die CDU mit 28 Prozent (Zuwanderung) bis 47 Prozent (Wirtschaft) zwar in allen Themengebieten vorn. Außer beim Thema Wirtschaft traut der größte Anteil der Bürger (jeweils mehr als 30 bis 40 Prozent) allerdings keiner einzigen Partei zu, gute Lösungen für das jeweilige Themenfeld zu entwickeln.

Der Monitor gibt auch Auskunft dazu, wie die Sachsen-Anhalter zum Fragezeitpunkt gewählt hätten: 24,8 Prozent hätten ihr Kreuz demnach bei der CDU gesetzt (-5 Prozent im Vergleich zur Landtagswahl 2016), 15,5 Prozent bei den Linken (-0,8 Prozent) und 13 Prozent bei der SPD (+2,4 Prozent). Die AfD käme auf 10,1 Prozent (-14,2 Prozent); die Grünen auf 9,3 Prozent (+4,1 Prozent), die FDP bliebe mit 4,5 Prozent (-0,4 Prozent) außerhalb des Parlaments.

Die Regierungsbildung wäre, wie schon 2016, kompliziert. In einem Volksstimme-Interview hatte der entlassene Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) zuletzt eine Minderheitsregierung als Ausweg aus der jüngsten Koalitionskrise ins Spiel gebracht. Was aber hielten die Sachsen-Anhalter von einem solchen Modell, wenn nach neuen Landtagswahlen keine Koalition zustande käme?

Knapp 58 Prozent der Landesbürger würden prinzipiell eine Minderheitsregierung tolerieren, so das Ergebnis des Sachsen-Anhalt-Monitors. Knapp 43 Prozent lehnen sie dagegen ab. Während sich bei den CDU-Anhängern Ablehnung (50 Prozent) und Zustimmung (48 Prozent) die Waage halten, trifft das Modell bei Linken (68 Prozent), Grünen (63 Prozent) und SPD (62 Prozent) auf mehr Offenheit.

CDU-Anhänger würden im Fall einer Minderheitsregierung übrigens am ehesten die SPD (20 Prozent) und FDP (12 Prozent) als Partner wählen, gefolgt von Grünen und Linken. Die AfD als Bündnisgenosse fände nur bei einem Prozent der CDU-Anhänger Zustimmung.

Ihrem 1990 wieder gegründeten Land Sachsen-Anhalt fühlen sich die meisten Landesbürger heute verbunden. Auf 35 Prozent der Befragten trifft das „sehr stark“ zu, auf 46 Prozent ziemlich stark. Eine noch stärkere Verbundenheit empfinden die Menschen nur für ihren Wohnort und – auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung – für Ostdeutschland. Der Bezug zu Gesamtdeutschland und Europa fällt geringer aus.

Das Verbundenheitsgefühl variiert allerdings je nach Alter. Jüngere, zwischen 18 und 29 Jahren, sind mobiler, und fühlen sich generell weniger an Orte gebunden. Zugleich fühlen sie sich nach dem Wohnort am zweitstärksten mit Gesamtdeutschland und am wenigsten mit Ostdeutschland verbunden – ein mögliches Indiz für das Zusammenwachsen des wiedervereinten Deutschlands. Nur jeder Fünfte kann sich vorstellen, das Bundesland zu verlassen. Zur Wahrheit gehört aber auch: 43 Prozent der 18- bis 29-Jährigen würden lieber in einem anderen Bundesland leben.

Der mit Abstand am häufigsten genannte Grund, warum Menschen gern in Sachsen-Anhalt leben, ist das Gefühl der Verbundenheit oder anders gesagt, die Tatsache, dass Sachsen-Anhalter ihr Land als Heimat betrachten.

Wenn Menschen wegziehen wollen, geben sie am häufigsten an, sich eine schönere Natur oder mehr wirtschaftlichen Erfolg zu erhoffen. Zum Befund einer abnehmenden Identifikation nur mit Ostdeutschland in der jüngeren Generation passt die persönliche Bilanz der Sachsen-Anhalter zur Deutschen Einheit: 30 Jahre nach der Wiedervereinigung meinen 65 Prozent der Landesbürger, die Vorteile der Einheit überwiegen. Nur 23 Prozent sehen vor allem Nachteile.

Das ist ein deutlich positiveres Fazit als noch 2009. Damals sahen lediglich 53 Prozent der Landesbürger vor allem Vorteile in der Wiedervereinigung. Für ein gutes Drittel (35 Prozent) überwogen die Nachteile.

Beim Vergleich der Demokratie mit anderen Staatsideen fällt die Tendenz gegenläufig aus. 30 Jahre nach der Wende sind zwar immer noch 50 Prozent entschieden für die Demokratie und 43 Prozent eher dafür.

Der Anteil entschiedener Demokraten ist seit 2018 allerdings von 61 Prozent ausgehend um 11 Prozent zurückgegangen. Gleichzeitig hat sich der Anteil derer, die die Demokratie eher oder entschieden ablehnen, von 3 auf 7 Prozent erhöht. „Auf der einen Seite hat sich das nachdrückliche Bekenntnis zur Demokratie abgeschwächt, während die Gegner der Demokratie sich der Zahl nach verdoppelt haben“, schreiben die Autoren des Monitors. Und: „Geistige Gegner der Demokratie sind mit 18 Prozent aktuell überdurchschnittlich oft in der jüngeren Altersgruppe unter 30 Jahren vertreten.“

Dazu passen Untersuchungen der Studie zum Vertrauen der Bürger in öffentliche Institutionen: „Den rechtsstaatlichen Institutionen wie Polizei, Bundesverfassungsgericht und Verwaltung wird mehr Vertrauen entgegengebracht als Institutionen, wie Bundes- und Landesregierung, Parteien und Politikern“, schreiben die Studien-Autoren. So vertrauen 64 Prozent der Befragten etwa der Polizei voll und ganz, aber nur 19 Prozent Parteien und 17 Prozent Politikern. Dabei unterscheiden die Bürger allerdings klar zwischen Parteien allgemein und solchen, mit denen sie sympathisieren. Das Vertrauen in die Landesregierung ist zudem erheblich gestiegen und weist den höchsten Wert seit 2007 auf.

Trotz mancher Skepsis: Systemkritische Einstellungen teilen die wenigsten Sachsen-Anhalter. Gerade einmal zwei Prozent lehnen die Idee der Demokratie grundsätzlich ab. 5 bis 6 Prozent plädieren entschieden für eine Revolution. Trotz abnehmender Unterstützung für die Demokratie als Staatsidee nimmt die Zufriedenheit mit deren Funktionieren zudem zu. 62 Prozent der Befragten äußerten sich sehr zufrieden (5 Prozent mehr als 2018). Damit schließt das Land zum Bundesniveau auf.

Je ungerechter Befragte die Welt empfinden, desto systemkritischer sind sie auch. Das Ungerechtigkeitsempfinden ist dabei sogar wichtiger als das persönliche Einkommen.

Mit Extremismus gehen nicht selten auch menschenfeindliche Haltungen einher. Hier zeigt sich ein differenziertes Bild: Während die Sachsen-Anhalter Homosexuellen toleranter gegenüberstehen als der Schnitt der Deutschen, gilt das für fremdenfeindliche und asylkritische Einstellungen nicht.

So stimmen nur 4 Prozent der Befragten der Aussage zu, Homosexualität sei unmoralisch (Bund: 6,9 Prozent). Gleichzeitig meinen aber 23 Prozent, es würden zu viele Ausländer in Deutschland leben (Bund 15,9 Prozent). Ein gutes Jahr nach dem Anschlag auf eine Synagoge in Halle glauben gleichbleibend drei Prozent, Juden hätten zu viel Einfluss in Deutschland. Die Zahlen im Land entsprechen damit etwa dem Bundesniveau.

Allerdings steigt der Anteil derer, die den Ansichten des sogenannten sekundären Antisemitismus beipflichten. So empfindet es jeder Fünfte als lästig, auch heute noch mit Informationen über den Holocaust konfrontiert zu werden. Das sind deutlich mehr als 2018. Auch der Anteil derer, die antisemitische Aussagen klar verneinen, ist deutlich gesunken.

SPD-Fraktionschefin Katja Pähle sagte zu den Ergebnissen: „Mit der Fülle der Daten werden sich alle politischen Kräfte in Sachsen-Anhalt noch intensiv auseinandersetzen.“

Beunruhigend sei, dass relativ viele junge Leute in einem anderen Bundesland leben möchten. Es brauche Weichenstellungen für ein attraktiveres Lebens- und Arbeitsumfeld. Zum Anstieg des Antisemitismus sagte Pähle: „Wir müssen uns intensiv mit allen Bewegungen auseinandersetzen, in denen sich Irrationalität und Wissenschaftsfeindlichkeit mit antidemokratischen Zielsetzungen verbinden.“

Grünen-Politiker Sebastian Striegel sagte: „Mich hat erschreckt, dass selbst nach dem rechtsterroristischen Anschlag von Halle der Anteil derer gestiegen ist, die es schulterzuckend hinnehmen, wenn Juden, Homosexuelle oder People of Color diskriminiert werden.“ Der Monitor bestätige zudem, dass die aktuelle politische Polarisierung die Spaltung der Gesellschaft vorantreibt. „Sachsen-Anhalt braucht Brückenbau statt neuer Gräben.“