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Müllskandal Tongruben-Prozesse: Kein Ende in Sicht

Wann der größte Umweltskandal in der Geschichte Sachsen-Anhalts aufgeklärt wird, ist offen. Der Müllskandal beschäftigt Gerichte noch Jahre.

10.01.2018, 23:01

Stendal/Vehlitz l Saal 218, Landgericht Stendal – das ist der Ort, an dem man sich müht, den größten Umweltskandal in der Geschichte Sachsen-Anhalts juristisch aufzuklären. Doch die Kulisse entspricht dem nicht. Großes Interesse? Fehlanzeige. Der Zuschauerbereich des in die Jahre gekommenen, holzvertäfelten Raumes ist komplett leer: Keine Bürger, keine Journalisten. Nachdem der Müllskandal über Jahre Dauerthema im Land war, läuft die Aufklärung schon seit Monaten weitgehend unter dem Radar der Öffentlichkeit ab. Doch warum dauert die Aufarbeitung eigentlich so lange? Die Volksstimme ist den Ursachen nachgegangen.

Zwischen 2005 und 2008 sind in der Tongrube Vehlitz rund 900.000 Tonnen Müll illegal entsorgt worden. In Möckern ist von 170.000 Tonnen die Rede. Eigentlich hätten dort nur Abfälle aus überwiegend mineralischen Stoffen eingelagert werden dürfen, zum Beispiel Bauschutt, Erde, Sand und Steine. Stattdessen ist jedoch ein hoher Anteil an organischem Abfall verkippt worden, darunter Hausmüll und Kunststoffe.

Doch zum 1. Juni 2005 wurden die Gesetze in Deutschland verschärft. Abfälle müssen seitdem erst in einen Müllofen, bevor sie auf eine Deponie kommen. Die Entsorger kostet das bis zu 170 Euro pro Tonne. Die Tongrubenfirma, die Sporkenbach Ziegelei GmbH in Möckern, nahm den Müll für rund 20 Euro pro Tonne ab und verkippte diesen.

Die Staatsanwaltschaft wirft den Betreibern vor, aus Gewinnsucht gehandelt und so mindestens 18 Millionen Euro Plus erwirtschaftet zu haben. Sie hätten in „rücksichtsloser Art und Weise“ das Allgemein-interesse am Erhalt der Umwelt ihren Gewinninteressen untergeordnet, so die Ankläger. Dass der Abfall schwere Umweltschäden verursachen würde, sei ihnen bewusst gewesen.

Der Müllskandal wird am Landgericht Stendal in zwei Verfahren aufgearbeitet. Der Prozess zur Tongrube Möckern läuft bereits seit September 2015. Bisher gab es mehr als 80 Verhandlungstage, es wurden bereits 79 Zeugen sowie diverse Sachverständige befragt. Der Prozess zur Tongrube Vehlitz wurde im Februar 2017 eröffnet. Bilanz: Fast 40 Verhandlungstage, rund 50 Zeugen.

Im Vehlitz-Prozess sitzen auf der Anklagebank sieben Männer, im Möckern-Verfahren sind es sechs dieser sieben Beschuldigten. Der Hauptangeklagte Edgar E., der ehemalige Sporkenbach-Geschäftsführer, ist bereits vorbestraft. Der Unternehmer wurde 2015 vom Landgericht Halle wegen Steuerhinterziehung in Zusammenhang mit dem Müllskandal zu einer 22-monatigen Bewährungsstrafe verurteilt.

Die Materie ist sehr komplex. Wer ohne Vorkenntnisse zum Prozess kommt, versteht fast nur Bahnhof: Ununterbrochen geht es um Stoffströme, Abfallschlüssel, Glühverlust, gefährliche Gase, austretendes Sickerwasser – mit Bodenschutz-, Berg- und Abfallrecht haben Richter und Anwälte nicht jeden Tag zu tun. Sie mussten sich selbst erst einarbeiten.

Nicht förderlich für eine rasche Aufklärung ist, dass sich gleich zwei Kammern mit dem Müllskandal befassen – die Verfahren werden jeweils von anderen Richtern und Schöffen bearbeitet. Ursprünglich sollte die Möckern-Kammer auch Vehlitz durchführen. Doch diese lehnte die Eröffnung des Verfahrens in dem Glauben ab, dass der Nachweis einer Straftat schwierig werden könnte. Das Oberlandesgericht Naumburg sah das jedoch anders und verwies das Vehlitz-Verfahren zurück nach Stendal – jedoch an eine andere Kammer. Durch diese Watsche sind jegliche Synergieeffekte dahin.

Wie umfangreich die Prozesse sind, zeigt ein Blick auf das Material. Die Akten ließ die Staatsanwaltschaft einst mit einem 7,5-Tonner zum Landgericht bringen. Im Keller des Gebäudes gibt es nun einen Lagerraum, der komplett von 250 Kisten voller Ordner vereinnahmt wird. Die Prozesse zu den Tongruben sind die größten, die es an diesem Gericht je gegeben hat.

Auch für die Verteidiger ist das herausfordernd, sie nutzen fast ausschließlich Computer statt Papier. Der Magdeburger Anwalt Ulrich Koehler, der einen der Angeklagten vertritt, sagt, ohne moderne Technik könnte er diese Prozesse nicht begleiten. Er spricht von insgesamt 1,5 Millionen Seiten. „Vor fünfzehn Jahren hätte ich eine Lagerhalle mieten müssen, um die Akten zu lagern. Das wäre nie gegangen.“

Oberstaatsanwältin Verena Borstell und ihre Kollegin Iris Benzel sitzen 17 Männern und einigen wenigen Frauen gegenüber – jeder der sieben Angeklagten hat ein bis drei Verteidiger. Jedem Richter, Staatsanwalt und Verteidiger steht ein Fragerecht zu. Das führt dazu, dass die Befragung eines einzelnen Zeugen oft mehrere Prozesstage in Anspruch nimmt.

Auch die Terminkoordination ist bei so vielen Akteuren herausfordernd, schließlich haben alle Beteiligten auch noch andere Fälle. Deshalb hat man sich auf eine Lösung geeinigt, durch die die Angeklagten fast ihre ganze Woche vor Gericht verbringen: Zu Vehlitz wird stets montags und dienstags verhandelt, zu Möckern donnerstags und freitags.

Nicht jeder Termin findet auch statt, zum Beispiel wegen Erkrankungen. „Sobald einer fehlt, steht der ganze Zug. Wir müssen immer alle unter einen Hut bekommen“, erklärt Gerichtssprecher Michael Steenbuck. Der Hauptangeklagte Edgar E. fiel bereits mehrere Wochen aus, er hört schlecht.

Deshalb kommen seit einigen Monaten Schriftdolmetscher zum Einsatz. Diese notieren jedes gesprochene Wort, so dass der Angeklagte auf einem Computerbildschirm mitlesen kann. Da die Dolmetscher nicht jedes Fachwort kennen, gibt es häufig Verständnisfragen. Das hält auf.

Die Tongrubenbetreiber fühlen sich im Recht. Ihre Anwälte argumentieren, dass sie für die Aktivitäten stets eine Genehmigung vom Landesbergamt erhalten hatten. Diese fußte zwar nach der Gesetzesverschärfung im Jahr 2005 noch auf den zu laxen alten Regeln. Dies sei aber nicht das Problem der Unternehmer, verantwortlich dafür sei die Landesregierung, die über das Wirtschaftsministerium für das Bergamt zuständig war. Erst 2008 zog die Behörde die Genehmigung zurück. Die strafrechtlichen Folgen dieser Genehmigungspraxis werden vor Gericht hart ausgefochten.

Zudem gibt es Streit über die entnommenen Proben. Als der Müllskandal 2008 aufflog, beauftragte die Staatsanwaltschaft Sachverständige mit der Aufgabe. Nach der Entnahme soll der Müll von einer Fachfirma falsch sortiert worden sein, was die Werte verfälscht haben soll. Verteidiger Koehler sagt: „Wir zweifeln die angewendeten Methoden an. Wir halten sie für unzureichend und glauben, dass sie vor Gericht nicht verwertbar sind.“

Die Folge dieser Linie: Die geladenen Sachverständigen werden mit Fragen überhäuft, die Gutachten stark in Zweifel gezogen. Inwiefern haben sich bei der Lagerung der Stoffe giftige Gase wie Schwefelwasserstoff oder Methan gebildet? Sind diese Gifte in Boden und Grundwasser gelangt? Dies zu klären, dauert.

Gerichtssprecher Steenbuck schätzt, dass der Möckern-Prozess eventuell Ende 2018 abgeschlossen werden könnte, im Fall Vehlitz ist wohl erst 2020 mit einem Urteil zu rechnen.

Mehr als ein Dutzend Verteidiger, die Dolmetscher, unzählige Sachverständige und Zeugen – die Verfahrenskosten gehen schon jetzt in die Millionen. Sollten die Angeklagten verurteilt werden, müssten diese in der Regel auch den Großteil dieser Posten übernehmen. Prozessbeobachter gehen jedoch nicht davon aus, dass bei den Männern viel zu holen sein wird. In diesem Fall würde für die Mammutprozesse der Steuerzahler aufkommen müssen – wie schon für die Sanierung der beiden Tongruben, da die Betreiberfirma insolvent ist. Kostenpunkt: Schon jetzt mehr als 21 Millionen Euro.