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Offener BriefLehrer kapitulieren vor Grundschülern

An der Grundschule im Ort Hessen (Harzkreis) fühlen sich die Lehrer von den Schülern terrorisiert und schrieben einen offenen Brief.

Von Mario Heinicke 22.02.2018, 00:01

Hessen l Es war ein außergewöhnlicher Brief, den die Lehrerschaft vor den Winterferien an alle Eltern verteilt hat. Ein Brief, in dem die Worte Sabotage, Körperverletzung, Polizei und Rettungsdienst fallen. Wohlgemerkt: Es geht um eine Grundschule. Elternvertreterin Mandy Bähsel macht der Brief als „Hilferuf der Lehrer“ fassungslos. „Gerade in der ersten und zweiten Klasse sollten doch die Kinder noch mit Freude in die Schule gehen und sich dort wohlfühlen.“ Doch sie weiß auch, dass es in der Schule unter Mitschülern, beginnend schon bei den Kleinsten, immer wieder zu Rangeleien, ja Schlägereien komme.

Schulleiterin Annett Habermann will sich auf Volksstimme-Nachfrage nicht zu den Vorgängen an ihrer Schule äußern. Der Stadt Osterwieck als Träger der Schule waren die Probleme in Hessen nicht bekannt, sagt der zuständige Fachbereichsleiter Manfred Riecher. Er wolle sich nun mit der Schulleiterin zu den Problemen verständigen.

Die Lehrer schreiben unter anderem in dem offenen Brief: „Die Problematik äußert sich im Unterrichts- und Pausengeschehen in extremer körperlicher Gewalt, Körperverletzungen anderer Schüler, dem Nichteinhalten bekannter Verhaltensregeln oder durch Nichtkenntnis von Regeln des zwischenmenschlichen Umgangs, Sabotage des Unterrichts durch permanente Störungen und Schlägereien, unerlaubtes Verlassen des Unterrichts, Sabotage des Unterricht durch Nichterscheinen zum Unterricht oder durch Verstecken auf dem Schulgelände“. Die Rede ist weiter von einer „entwickelten Gefühlskälte“ von Kindern gegenüber Mitschülern. Körperliche Auseinandersetzungen mit Verletzungen würden billigend in Kauf genommen.

Eigentlich scheint die Schule sich kaum von anderen Einrichtungen zu unterscheiden. 163 Mädchen und Jungen lernen an der Grundschule „Aue-Fallstein“. Der Einzugsbereich besteht aus sieben Ortschaften zwischen 175 und 1300 Einwohnern. Probleme mit Ausländern sind in der Region kein Thema, es soll an der Schule lediglich ein Kind mit ausländischen Wurzeln geben. Die Störenfriede kommen auch nicht aus armen Haushalten, sondern deutschen Familien aller Einkommensschichten, ist an der Schule zu erfahren.

Aber was genau ist an der Schule passiert? Berichtet wird in Hintergrundgesprächen von Kindern, die zum Beispiel auf dem Fußweg durchs Dorf zwischen Schule und Turnhalle einfach weglaufen. Wenn zwei Klassen wegen Krankheit zusammen unterrichtet wurden, sollen Kinder das widerspenstig abgelehnt und die Schule verlassen haben. Wenn Kinder nach Rangeleien auf dem Schulhof von Lehrkräften zur Rede gestellt wurden, seien sie ebenfalls davongelaufen oder hätten sich auf dem weitläufigen Schulgelände versteckt. Sie seien dann auch nach Pausenende nicht zurück in die Klasse gekommen. Zu Attacken gegen Mitschüler soll es auch im Schulbus gekommen sein. Eltern seien der Aufforderung, nach einem Vorfall ihr Kind von der Schule abzuholen, nicht nachgekommen.

Die Lehrer sehen sich zwischen Baum und Borke. Sie könnten ihrer Fürsorgepflicht nicht nachkommen, wenn ein Kind die Klasse verlässt. Denn entweder der Lehrer geht aus dem Raum, um das Kind zu suchen, oder er bleibt bei der Klasse, entzieht aber das fehlende Kind der Kontrolle und dem Schutz.

Die Situation, heißt es in dem Schreiben an die Eltern, soll erst seit Schuljahresbeginn extrem aus dem Ruder gelaufen sein. Bisherige Erziehungsmaßnahmen würden nicht zum erhofften Erfolg führen. Verstöße wurden bisher mit Schreibstrafen oder nach wiederholten Vorfällen mit einem Brief an die Eltern geahndet. Elternvertreterin Mandy Bähsel berichtet von einem Kind, dass bereits viermal die Hausordnung der Schule abschreiben musste.

Jetzt wollen die Lehrer härter durchgreifen, kündigen sie im Schreiben an. Bei Verstößen müssen die Eltern das Kind von der Schule abholen, bei schwereren Vergehen wird ein nach dem Schulgesetz möglicher Ausschluss vom Unterricht bis zu fünf Tagen angedroht. Kommt es zu Körperverletzungen, werden zusätzlich die Polizei und der Rettungsdienst hinzugezogen. Die Polizei werde zukünftig ebenfalls gerufen, wenn ein Kind unaufgefordert den Klassenraum oder das Schulgelände verlassen sollte.

Sowohl dem Landesschulamt als auch der Polizei sind die Probleme an der Schule seit längerem bekannt. Nach Einschätzung von Silke Stadör, der Sprecherin des Landesschulamtes, „ist eine Ursachenanalyse notwendig“. Kommende Woche werde den Hessener Lehrkräften eine Fortbildung durch kompetente Mitarbeiter der Förderschule für Ausgleichsklassen in Wasserleben angeboten.

Auch die Polizei in Osterwieck wolle helfen, bestätigt Polizeikommissar Gerd Lohse. Bereits im Dezember habe es ein Gespräch in der Schule gegeben. Die beiden in Osterwieck tätigen Beamten wollen nach Hessen in den Unterricht kommen. Dabei wolle man den Kindern vor Augen führen, was passieren könnte, wenn sie das Schulgelände verlassen. Kommissar Lohse stellt klar: „Die Verantwortlichkeit der Lehrer für die Kinder endet am Schulzaun. Außerhalb des Schulgeländes sind die Eltern für ihr Kind verantwortlich.“

„Die kleinen Kinder haben keinen Respekt vorm Alter“, glaubt Elternvertreterin Mandy Bähsel. Sie findet es grundsätzlich richtig, dass sich die Lehrer in der Form eines offenen Briefes an die Eltern gewandt haben.

Sorgen macht sich die Mutter indes vor allem um die Zukunft, falls der Appell nicht fruchten sollte: „Wo soll das noch hinführen?“