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Expertenbericht zum schweren Zugunglück bei Hordorf / "Mit Zugbeeinflussung wäre Ereignis nicht eingetreten" Rätselhaft: Warum stoppte Lokführer seinen Güterzug mitten in der Nacht?

Von Winfried Borchert 16.09.2011, 04:34

Knapp acht Monate nach dem schweren Zugunglück bei Hordorf im Bördekreis liegt ein Expertenbericht zum Unfallhergang vor. Danach hat der beteiligte Güterzug-Lokführer zwei Signale übersehen. Zudem hatte die Deutsche Bahn auf der Strecke keine automatische Zugbeeinflussung installiert, die das Unglück verhindert hätte. Rätsel gibt ein außerplanmäßiger Halt des Güterzuges fünf Minuten vor dem Unglück auf.

Bonn/Magdeburg. Aus dem 26-seitigen Untersuchungsbericht, der der Volksstimme vorliegt, geht hervor, dass der Lokführer des aus dem Harz kommenden Güterzuges ursächlich für den Zusammenstoß mit einem entgegenkommenden Triebwagenzug des Harz-Elbe-Express (HEX) verantwortlich ist. Er hatte am Abend des 29. Januar bei Hordorf zwei Signale ignoriert und war aus einer zweigleisigen Strecke in einen eingleisigen Abschnitt eingefahren, wo sein Zug um 22.28 Uhr im Nebel mit dem HEX-Zug zusammengeprallt war. Dabei waren zehn Menschen ums Leben gekommen und 23 weitere teils schwer verletzt worden.

Die Experten schließen technisches Versagen als Ursache aus. Die Lokführer besaßen alle erforderlichen Qualifikationen und Streckenkenntnisse. Alle Signale und Weichen seien vom Fahrdienstleiter in Hordorf korrekt für den HEX-Zug Magdeburg – Halberstadt eingestellt worden, die Züge in technisch einwandfreiem Zustand gewesen.

Trotz der nüchternen Sprache des Berichtes offenbart die entscheidende Passage die Dramatik jener Nacht: "Kurz nach Fertigstellung der Fahrstraße (für den HEX-Zug) habe er (der Fahrdienstleiter in Hordorf – d. Red.) das Fahrgeräusch des Güterzuges vernommen. Er habe in Richtung Nienhagen geschaut, aus der der Güterzug kommen sollte. Nach seiner Einschätzung sei der Güterzug mit einer Geschwindigkeit von ca. 80 bis 90 km/h angekommen. Er habe sofort die Nothalttaste (Erteilung eines Nothalt-Auftrags per Funk an beide Lokführer) gedrückt. Die Weiche 1 sei bereits durch den Güterzug aufgefahren worden. Kurz darauf habe es gekracht."

Rätsel gibt den Experten ein Halt des Güterzuges etwa acht Kilometer vor der Unglücksstelle auf. Der Zug wurde laut Fahrtenschreiber auf freier Strecke gestoppt und 36 Sekunden später wieder angefahren. Der Lokführer, der bis heute schweigt, hatte dazu weder einen Auftrag noch setzte er über seinen Halt eine Nachricht ab. Unklar ist auch, warum der aus Rübeland kommende Zug mit zweistündiger Verspätung den Bahnhof Blankenburg verließ. Zur üblichen Zeit gegen 20.30 Uhr hat der Güterzug in Hordorf freie Fahrt in Richtung Magdeburg.

Zwei Minuten Verspätung hatte laut Bericht auch der HEX-Zug. Zwei Minuten hätten ausgereicht, um den zweigleisigen Abschnitt zu erreichen, bevor der Güterzug die entscheidende Weiche passierte. Damit wäre das Unglück vermieden worden.

Die Experten betonten, ihr Bericht diene nicht dazu, ein Verschulden festzustellen oder zivilrechtliche Ansprüche zu klären. Dies bleibe gerichtlichen Untersuchungen vorbehalten. Bei der Staatsanwaltschaft Magdeburg läuft ein Ermittlungsverfahren.

Indirekt machten die Fachleute die für das Schienennetz zuständige Deutsche Bahn für das Unglück mitverantwortlich. Zum Zeitpunkt des Unglückes war die Strecke nicht mit einer automatischen Zugbeeinflussung (PZB) ausgestattet, obwohl das Eisenbahn-Bundesamt und die Landesregierung bereits Jahre zuvor mehrfach auf die Risiken hingewiesen hatten. Erst Monate nach dem Unglück war an der Stelle jene Technik installiert worden, die Züge stoppt, wenn sie vorschriftswidrig Signale überfahren. "Es ist davon auszugehen, dass mit einer Zugbeeinflussung das Ereignis nicht eingetreten wäre", heißt es in dem Bericht.

Die Experten erklärten, pro Monat würden in Deutschland etwa 33 Mal auf "Halt" stehende Signale von Lokführern überfahren. Ein Sprecher der Deutschen Bahn bezweifelte diese Zahl.

Bis die Sicherungstechnik überall nachgerüstet ist, empfehlen die Fachleute, auf Bahnstrecken ohne PZB – insgesamt etwa 3000 Kilometer vorwiegend in Ostdeutschland – Maßnahmen zur Senkung des Risikos zu ergreifen. Für die Übergangszeit sollten auf derartigen Strecken außerdem Züge mit zwei Lokführern besetzt werden, die zulässigen Geschwindigkeiten herabgesetzt werden und die Zugdichte verringert werden.

Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) begrüßte gegenüber der Volksstimme diese Empfehlungen. Hartmut Schaefer, Chef der GDL Mitteldeutschland, sagte, das würde zu mehr Sicherheit beitragen. Zugleich müssten die Eisenbahnunternehmen mehrere hundert Mitarbeiter zusätzlich einstellen.