Insider berichtet VW-Beschäftigter spricht über Stammwerk in Wolfsburg: „Sozialismus mit Westgeld“
Seit 22 Jahren arbeitet Eike Rau im Volkswagen-Werk in Wolfsburg – wie tausende andere Sachsen-Anhalter. Den angekündigten Jobabbau im Konzern sieht er kritisch. Der 60-Jährige spricht von vielen Managementfehlern.
Wolfsburg/MZ. - Seit 22 Jahren pendelt Eike Rau zur Arbeit nach Wolfsburg. Von seinem Wohnort, dem Bördedorf Ochtmersleben, sind es etwa 70 Kilometer bis zur Autostadt. „Seit Jahren wird auf der A2 gebaut, wenn ich es in einer Stunde schaffe, läuft es gut“, sagt Rau. Auf der Autobahn ist er jeden Morgen mit tausenden anderen Sachsen-Anhaltern auf dem Weg ins VW-Stammwerk.
Angefangen hat Rau im Karosseriebau, heute arbeitet er als hauptamtlicher Vertrauensmann. Das IG-Metall-Mitglied wurde von den Beschäftigten als Art Mittelsmann zwischen Werkleitung und Arbeitern gewählt.
Kritik an der Unternehmensführung und interne Herausforderungen
Der 60-Jährige kann daher viel offener reden als viele seiner Kollegen. Doch Rau spricht nicht wie ein klassischer Gewerkschafter. Auf die Frage nach dem Grundproblem bei VW sagt er: „Wir haben hier Sozialismus mit Westgeld.“
Das VW-Werk mit 70.000 Mitarbeitern ist das Herz des Konzerns. In Wolfsburg werden die Modelle Golf, Tiguan und Touran gebaut, es ist die größte Autofabrik der Welt. Doch dieser geht es wirtschaftlich nicht gut. Im Jahr 2014 wurden noch 836.000 Fahrzeuge am Standort produziert, im Vorjahr waren es nur noch 490.000.
Finanzielle Engpässe und Zukunftssorgen im Werk Wolfsburg
Auf einer Betriebsversammlung Anfang September vor mehr als 10.000 Beschäftigten verkündete die Konzernspitze einen drastischen Sparkurs.
„Wir haben noch ein Jahr, vielleicht zwei Jahre Zeit, das Ruder herumzureißen. Aber diese Zeit müssen wir nutzen“, sagte Konzernfinanzchef Arno Antlitz. „Wir geben in der Marke seit geraumer Zeit schon mehr Geld aus, als wir einnehmen. Das geht nicht gut auf die Dauer.“ Die seit 1994 geltende Job-Garantie wurde gekündigt, Werksschließungen stehen im Raum.
„Viele Kollegen empfinden das als Schlag ins Gesicht“, sagt Rau. Er bestreitet nicht, dass das Werk nicht mehr wettbewerbsfähig ist. „Doch das liegt an der Führung, die diesen Standort runterwirtschaftet.“
Rau hat in der DDR Zootechniker gelernt und als Melker in einem Milchviehbetrieb gearbeitet. Nach der Wende schulte er auf Rechtsanwaltsgehilfe um. Im Jahr 2002 bewarb er sich dann beim VW-Programm „5.000 mal 5.000“.
Der Autobauer wollte 5.000 neue Mitarbeiter für ein Bruttogehalt von 5.000 DM einstellen. Der Konzern beschäftigte damals neue Mitarbeiter, im Gegenzug stimmte die IG Metall niedrigeren und flexibleren Löhnen mit erhöhter Arbeitszeit zu. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) fädelte das ein.
Niemand ist für Teilemangel verantwortlich
„Viele Ossis wurden damals eingestellt“, sagt Rau. Laut Arbeitsagentur arbeiten aktuell 4.900 Sachsen-Anhalter in der niedersächsischen Auto-Industrie. Vor allem im Norden des Landes pendeln viele Arbeitnehmer. Daten zu einzelnen Unternehmen werden nicht erhoben.
Im Karosseriebau hat Rau zunächst Türen abgeschliffen. „Damals gab es dort einen Chef, drei Schichtleiter, ein paar Meister und der Rest waren Arbeiter.“ Die Hierarchien seien flach gewesen.
Jetzt gebe es dort einen großen Chef, vier kleinere Chefs, dann Schichtleiter und und und. Das sei in vielen Bereichen so. „Es ist vieles aufgeblasen, doch darüber wird wenig gesprochen“, sagt Rau. Es werde lediglich darüber geredet, dass die Mitarbeiter zu viel kosten.
Teilemangel und Produktionsausfälle: Wer trägt die Verantwortung?
Rau berichtet darüber, dass vor zehn Jahren in Wolfsburg fast doppelt so viele Autos gebaut wurden wie heute. „Damals ist es uns gelungen, für all diese Fahrzeuge Teile zu bekommen. Heute steht ständig die Produktion wegen fehlender Teile still.“
Rau und seine Kollegen fragen sich: Wie kann das sein, wer ist dafür verantwortlich? „Ich sehe nicht, dass jemand dafür verantwortlich gemacht wird. Das ist einfach so.“ Deswegen spricht er von Sozialismus.
Es ist vieles aufgeblasen, doch darüber wird wenig gesprochen.
Eike Rau, Vertrauensmann bei VW
Der Vertrauensmann betont im Gespräch, dass VW ein soziales Unternehmen sei: „Der Konzern zahlt ordentliche Schichtzuschläge, es gibt einen Freizeitausgleich, in der Pandemie wurde 100 Prozent des Lohns gezahlt, auch wenn nicht gearbeitet wurde.“
Laut Gehaltsvergleichsportalen liegen die Bruttolöhne – vor Steuern und Sozialabgaben – in der Produktion bei etwa 4.000 Euro im Monat. Dafür wird laut Rau aber auch viel Leistung verlangt. „Sieben Stunden am Band zu arbeiten, ist kein Spaß.“
Durch den Rückgang der Produktion oder den Teilemangel sei es in den vergangenen Jahren immer wieder dazu gekommen, dass Schichten gestrichen wurden. Einerseits. Andererseits würden aktuell Sonderschichten am Wochenende eingeführt, um Produktionsspitzen zu bewältigen. „Für viele Kollegen ist das nicht verständlich“, sagt Rau. Man habe nicht das Gefühl, dass planvoll gehandelt werde.
Hohe Krankenstände und unsichere Arbeitsbedingungen belasten Mitarbeiter
Laut einem Bericht der „Braunschweiger Zeitung“ sollen in der Wolfsburger Golf- und T-Produktion (Tiguan und Touran) die Krankenstände zeitweise bei 15 Prozent liegen.
Zum Vergleich: Im August 2024 belief sich der durchschnittliche Krankenstand in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf rund 6,07 Prozent. Das heißt, von 100 Arbeitnehmern sind im Schnitt sechs krank. Bei VW sind es 15. Die Wolfsburger Werksführung sieht diese Entwicklung kritisch.
Rau sagt jedoch: „Hier feiert keiner krank.“ Teilweise seien ältere Mitarbeiter nicht mehr so belastbar wie jüngere. „Das ist aber normal, durch ein gutes Produktionsmanagement lässt sich sowas regeln“, sagt er.
Die aktuelle Stimmung unter den Beschäftigten bei Volkswagen beschreibt er als „angespannt“. Niemand wisse, „was auf uns zukommt“. Es mache sich das Gefühl breit, dass der Produktionsrückgang vom Management gewollt sei.
Der Konzern verfüge global über mehr als 100 Produktionsstätten, zwischen denen die Aufträge gesteuert würden. „Wenn die Maschinen bei uns nicht ausgelastet werden, sind wir auch nicht rentabel“, so Rau.
Der langjährige VW-Mitarbeiter nimmt die Ankündigung einer möglichen Schließung eines deutschen Standortes ernst. „So wie jetzt, kann es nicht weitergehen.“
Kostenexplosion und sinkende Wettbewerbsfähigkeit
Auf einer Linie mit der Konzernführung sind viele Beschäftigte in der Kritik der Rahmenbedingungen. „Wenn die Energie in Deutschland immer teurer und die behördlichen Umweltauflagen immer höher werden, dann schlägt sich das am Ende in den Kosten nieder“, so Rau.
Es werde von der Politik agiert, als sei Deutschland eine Insel. Auch dies erinnere ihn an Sozialismus. „Wir stehen aber im Wettbewerb“, so Rau.
Was ihm und viele seiner Kollegen bitter aufstößt, ist auch, dass „Volkswagen keine Volkswagen mehr baut“. Der VW Golf koste inzwischen mehr als 30.000 Euro, der Tiguan mehr als 40.000 Euro. Kleinwagen wie der Up und der Lupo würden nicht mehr gebaut.
Strategiewechsel bei VW: Pläne für neue Elektrofahrzeuge
Auch VW-Chef Oliver Blume sieht das als Problem. Er hat zuletzt angekündigt, dass der Konzern ab 2027 ein kleines E-Auto für um die 20.000 Euro auf den Markt bringen will. Gebaut wird das aber wahrscheinlich in Süd- oder Osteuropa.
Rau ist jahrelang mit einem VW Caddy zur Arbeit gependelt. Der Tierliebhaber, der neun Schafe besitzt, ist nun allerdings auf einen Ford Transit umgestiegen. Ein ähnliches VW-Modell hätte 15.000 Euro mehr gekostet.
„Vor einigen Jahren wäre so ein Schritt für mich noch undenkbar gewesen“, sagt Rau. Hat er seine Verbundenheit zum Unternehmen verloren? „Nein“, sagt Rau klar. „Ich arbeite sehr gern hier. Wegen der Hochpreisstrategie des Konzerns fahren nun auch VW-Mitarbeiter andere Marken.“