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Siebtklässler der Sekundarschule "Wilhelm Wundt" in Tangerhütte erforschten zwei Jahre lang ganz praktisch ihre Schulgeschichte Rohrstock und Pionierknoten wären nichts für die Jugend von heute

Von Andreas Stein 24.06.2011, 06:36

Zwei Jahre lang sind Schüler der Sekundarschule "Wilhelm Wundt" in Tangerhütte (Kreis Stendal) in die Schulgeschichte eingetaucht, haben anlässlich des Schuljubiläums den Alltag an ihrer "Penne" vor 100 Jahren und den Schulalltag in der DDR untersucht. "Ausgezeichnet", urteilten Juroren des Förderprogramms "Demokratisch handeln" und luden die Schüler zur "Lernstatt Demokratie" nach Tutzing (Bayern) ein.

Tangerhütte. Wenn die Backsteine dieses altehrwürdigen Gemäuers reden könnten, sie hätten eine Menge zu erzählen. Davon, wie vor einhundert Jahren mehr als tausend Mädchen und Jungen über den Hof des neuen Schulgebäudes liefen, wie es im Zweiten Weltkrieg in ein Lazarett umgebaut wurde, wie Ende der 1970er Jahre die Aula mit einer Zwischendecke verschandelt wurde, wie hier ungezählte Schüler- und Lehrergenerationen ein- und ausgingen ...

Die Jugendlichen, die heute in der Tangerhütter Sekundarschule für den Abschluss pauken, wussten wenig von der reichen Geschichte der Schule – bis das Schulmuseum vor zwei Jahren anlässlich des 100. Geburtstages vom Dachboden in den Geräteraum der alten Turnhalle umzog und neu gestaltet wurde. Das war auch der Startschuss für Lehrerin Evelyn Benze und ihr Geschichtsprojekt.

Grau ist alle Theorie, und so ging sie gemeinsam mit der Klasse 5a in einer Projektwoche auf Zeitreise ins Jahr 1909, wo sich schnell herausstellte, dass der Unterricht nicht so "lässig" war wie heutzutage: Im historischen Klassenzimmer lernten die Pennäler unter den gestrengen Blicken von "Fräulein Lehrerin" Benze mit Griffel und Schiefertafeln die Sütterlin-Schrift, konnten die zehn Gebote auswendig und im Chor vortragen – natürlich im Stehen. In dieser Zeit trugen die Kinder die Vornamen ihrer Großeltern, und wenn "Fritzchen" oder "Ingeborg" nicht spurten, dann setzte es was mit dem Rohrstock. Unbelehrbare mussten mit der Eselskappe auf der gleichnamigen Bank Platz nehmen ... Und wie war das so, Schule vor 100 Jahren? "Zu streng", finden die heutigen Siebtklässler. Und dann noch diese alten Klamotten von den Großeltern ... das ging gar nicht!

Da war die Schule zu DDR-Zeiten schon besser. "Das Pionierleben" lernten die Schüler dann im vergangenen Herbst kennen – mit tatkräftiger Unterstützung des leidenschaftlichen Sammlers Matthias Hofmüller aus Badingen, der einen Klassensatz original Pionier- und FDJ-Blusen zur Verfügung stellte. Die zehn Gebote der Kirche waren passé, jetzt waren die zehn Gebote der Thälmann-Pioniere aktuell. "Und wir haben DDR- und Heimatlieder gesungen", erinnert sich Schüler Rosario Schulze. Auch ein dreiviertel Jahr später hätten die Schüler noch alles drauf, vom Pioniergruß bis zum Fahneneid, versichert Lehrerin Evelyn Benze.

Für großes Aufsehen in Tangerhütte sorgte die Altstoffsammlung Mitte Oktober 2010, die an zwei Projekttagen vorbereitet und durchgeführt wurde. Nach Ankündigung im "amtlichen Organ" Volksstimme und einer Plakataktion zogen die Schüler von Tür zu Tür und sammelten Papier und Flaschen – sehr zur Freude der Anwohner, die in Erinnerungen an die eigene Kindheit "schwelgten". "Im November studierten wir dann das Programm für die ¿Patenbrigade‘ ein und führten dieses Anfang Dezember im Schulmuseum interessierten Besuchern und Eltern vor", berichtet Evelyn Benze. Im gleichen Monat war die Kommunalpolitikern Edith Braun (SPD) zu Gast und erzählte von ihren DDR-Erfahrungen. Den vorläufigen Abschluss des Projektes bildete im Februar 2011 die Rundfahrt "Grenzenlos", bei der die Siebtklässler an der ehemaligen innerdeutschen Grenze die andere Seite der DDR-Diktatur erlebten. "Wir haben gelernt, dass es uns heute besser geht", sagt Anja Biermann zurückschauend.

"Das Projekt wurde von der Schulleitung, den Eltern und den Tangerhüttern gut aufgenommen, weil wir auch die Kehrseiten der heilen Schulwelt gezeigt haben", sagt Evelyn Benze. Die 46-Jährige ist überzeugt, dass man dieses Projekt nicht mit jeder Klasse hätte durchführen können. "Die Kinder haben es gemacht, weil sie Spaß daran hatten, nicht für Geld oder den Wettbewerb", weiß sie. Heutzutage wüssten die Schüler lehrplanbedingt mehr über die Bauernkriege als über die nahe Vergangenheit. Das sei jedoch genauso wichtig, ist Evelyn Benze überzeugt.