Streitgespräch zwischen Landesbischöfin Ilse Junkermann und Marianne Birthler "Ruf nach Versöhnung kommt von Leuten, die den Schlussstrich wollen"
Wie kann mehr als 20 Jahre nach der Wiedervereinigung an Versöhnung gedacht werden? Unter diesem Motto stand ein Streitgespräch zwischen der evangelischen Landesbischöfin Ilse Junkermann und der früheren Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, in Erfurt.
Erfurt l Das Streitgespräch am Montagabend im Erfurter Augustinerkloster hat eine Vorgeschichte: Wenige Monate nach ihrem Amtsantritt im August 2009, im Jubiläumsjahr 20 Jahre friedliche Revolution, hatte die aus Baden-Württemberg stammende Junkermann auf der Herbstsynode der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) im November einen Versöhnungsaufruf gestartet. "Es gibt eine Mauer des Schweigens zwischen denen, die zum Opfer, und denen, die zum Täter in einem durch die Stasi durchsetzten Beziehungsgeflecht geworden waren." Sie plädierte für Gespräche, um die "Mauer der Sprachlosigkeit" zu überwinden.
Für diese Initiative hat die Bischöfin in den vergangenen Monaten nicht nur Zustimmung geerntet, vor allem von den Opferverbänden bekam sie Kritik. Ein öffentliches Gespräch mit der damaligen Bundesbeauftragten Marianne Birthler war seit Junkermanns Debattenanstoß vereinbart - stattgefunden hat es nun am Montag auf Initiative der Evangelischen Akademie Thüringen.
"Geschützte Räume, in denen Menschen ihre Geschichte erzählen"
Junkermann spricht auch an diesem Abend von einer "Blockade, einer fast unsichtbaren Mauer" im Umgang mit der Vergangenheit. Und sie sei froh, diese ein Stück weit aufzubrechen. Sie konstatiert einen Schaden für die Gesellschaft, die zu wenig getan habe, den Opfern die nötige Aufmerksamkeit zu schenken und die Täter aus ihrer Abschottung herauszuholen. Die Bischöfin plädiert für "geschützte Räume", in denen Menschen ihre Geschichte erzählen können. "Vor Versöhnung steht Reue und die Vergebungsbitte. Aber braucht es diese?", fragt sie mit dem Hinweis auf das Vaterunser ("Vergib uns unsere Schuld wie wir vergeben unseren Schuldigern"). Und sie stellt dabei provozierende Fragen wie etwa "Ist eine Schulderkenntnis überhaupt noch möglich in einer postmodernen, säkularen Gesellschaft?" oder "Wie kommen wir zu einer differenzierten Sicht auf Täter und Opfer?" Junkermann wirft in den Raum die Frage nach den Folgen für Demokratie und Gesellschaft, wenn Menschen mit "Flecken auf ihrer weißen Weste" ausgeschlossen werden.
"Die Opfer brauchen Aufmerksamkeit und Respekt"
Marianne Birthler, ehemalige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, verweist auf die "ganz gegensätzlichen Antworten" auf die Frage, ob Versöhnung in Deutschland gelungen sei. "Für die einen ist sie gescheitert, für die anderen eine Erfolgsgeschichte, wiederum andere sprechen von einem Rachefeldzug. Im Ausland gelten wir als eine Art Vorbild." Und sie konstatiert "tatsächlich einige Fortschritte", etwa durch die Schaffung von Institutionen auf Bundes- und Länderebene, Gedenkstätten, Archive, auf Hunderttausende, die ihre eigene Stasi-Akte gelesen haben, die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern, millionenfachen Überprüfungen. "Es gibt aber auch eine andere Seite. Viele Opfer der Diktatur leben in prekären Verhältnissen. Die Täter sind sehr viel besser gestellt." "Ich benutze das Wort Versöhnung überhaupt nicht mehr. Es wird heute verwendet von Leuten, die nichts anderes als den Schlussstrich wollen." Der Ruf nach Versöhnung sei kontraproduktiv, weil es den Druck auf die Opfer erhöhe. "Die Opfer brauchen Aufmerksamkeit und Respekt vor ihrem individuellen Schicksal, das nicht relativiert werden darf, etwa mit dem Hinweis auf die Nazizeit." Sie benötigen "Raum für die Trauer für das verlorene Leben, für verlorene Beziehungen". Versöhnung setze "absolute Freiwilligkeit" voraus - die sie derzeit nicht erkennen könne. Opfer sollten sich nicht unter Druck setzen lassen. "Ich wünsche jedem, dass er in der Lage ist, sich mit dem eigenen Schicksal zu versöhnen."
Birthler wird aus dem Publikum mit Beifall bedacht, Junkermann dagegen teils heftig attackiert. Ein Zuhörer meint: "Ich kann nicht vergeben." Junkermann wird vorgeworfen, ihr stünde es nicht zu, sich wegen ihrer Herkunft aus Baden-Württemberg zu diesem Thema zu äußern. Was wiederum Birthler dazu veranlasst, sich vor Junkermann zu stellen. Zugleich entgegnet sie dem Oberhaupt von rund 800000 Protestanten in Sachsen-Anhalt und Thüringen: "Es ist schwierig für eine Bischöfin, die Täter als Seelsorgerin zu begleiten, wo doch eigentlich die Opfer Empathie erwarten dürfen."
Aus dem Publikum meldet sich auch ein Zuhörer, der sich als ehemaliger Stasi-Offizier outet. "Ich halte von diesem Gestus nichts", erklärt er zu der Versöhnungsdebatte. "Ich habe meine Biografie öffentlich gemacht und Gespräche angeboten. Keiner ist gekommen." Und er stünde auf Seiten der Opfer, einen Schlussstrich dürfe es nicht geben.
Einem Zuhörer, der erklärt, nicht vergeben zu können, entgegnet Birthler: "Das ist ihr gutes Recht. Was ist aber zu tun, damit Sie ohne Bitterkeit weiterleben können? Wie komme ich zu meinem Frieden zurück?" Die einstige Bundesbeauftragte bezeichnet die Antwort auf diese Fragen als "seelsorgerische Herausforderung für alle".