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Sachsen-Anhalt Hotellerie: Auf dem Abstellgleis

Die Branche in Sachsen-Anhalt fordert von der Politik Verlässlichkeit und Perspektiven. Wie die Pandemie den Tourismus verändern wird.

Von Christoph Dierking 06.02.2021, 00:01

Wernigerode l Ein Freitagmittag, gerade hat es geschneit. Normalerweise würde Kerstin Nagy jetzt die Schlitten nach draußen stellen. Eltern können sie leihen, wenn sie mit den Kindern Ausflüge machen wollen. Doch jetzt geht kaum jemand durch die malerischen Gassen mit den Fachwerkhäusern. Die Schlitten bleiben im Abstellraum. Gleichmäßig bedeckt der Schnee das Kopfsteinpflaster im Innenhof. Keine einzige Fußspur ist zu sehen.

Vom Innenhof führt seitlich eine Tür direkt in die Hotelrezeption. Außer der Geschäftsführerin, die hinter der mächtigen Empfangstheke sitzt, ist niemand hier. Niemand wuchtet gut gelaunt seinen Reisekoffer über die Stufe, voller Vorfreude auf ein paar schöne Tage. Niemand greift nach den Postkarten, um Freunden ein paar Zeilen aus dem Urlaub zu schicken. Nur das leise Ticken der Uhr, die über der Tür hängt, ist zu hören.

Frau Nagy, seit November dürfen Sie keine Touristen, sondern ausschließlich Geschäftsreisende beherbergen. Wie hat die Pandemie Ihren Alltag verändert?

Vor dem ersten Lockdown war die ständige Beschleunigung des Lebens auch für unsere Branche normal. Schneller, höher, weiter, das war das gängige Motto. Der Tagesplan war eine volle To-do-Liste. Dann hat die Pandemie alles auf den Kopf gestellt. So etwas kann man innerlich nicht unmittelbar umsetzen.

„Es geht mir ans Herz, die fragenden Augen der Mitarbeiter zu sehen.“

Es hat gedauert, sich auf die neue Situation einzustellen. Allein das Wort Kurzarbeit war ein erschreckendes Novum und es geht mir ans Herz, die fragenden Augen der Mitarbeiter zu sehen und selbst nicht zu wissen, wann wir endlich wieder unserer Arbeit nachgehen können. Aber ich will nicht einfach den Schlüssel umdrehen und zu Hause bleiben. Wir wollen erreichbar sein, für unsere Gäste, für Anfragen und mögliche Buchungen. Momentan klingelt das Telefon allerdings selten.

Auch im vergangenen Frühjahr musste das Hotel für einige Wochen schließen. Erleben Sie den zweiten Lockdown anders als den ersten?

Ja, auf jeden Fall. In der Zeit des ersten Lockdowns habe ich immer gesagt, dass ich mich wie in einer Achterbahn fühle. Es gab viel zu tun: Wir mussten die Gäste wegen des Beherbergungsverbots bitten, die Koffer zu packen und abzureisen. Das hat es noch nie gegeben. Stornierungen über Stornierungen kamen herein, auch einige Umbuchungen. Und dann ist plötzlich Ruhe eingetreten.

Aber die Zuversicht, dass wir absehbar wieder öffnen dürfen, war immer noch sehr präsent. So ist es ja auch gekommen: Im Sommer hatten wir sehr erfolgreiche Monate. Mit dem zweiten Lockdown ist die wirtschaftliche Kurve, und auch die emotionale, wieder runtergegangen. Der Zuversicht, die wir noch im Herbst hatten, ist Ernüchterung gewichen. Das Bild von der Achterbahn passt nicht mehr. Wir sind nicht mehr in Bewegung. Jetzt stehen wir auf dem Abstellgleis. Und einen konkreten Fahrplan gibt es noch nicht.

Auseinandergezogene Tische, Trennwände aus Glas in den Restaurants, zusätzliche Decken, damit Gäste auch in der kühlen Jahreszeit draußen sitzen können: Die Branche hat viel investiert, um den Infektionsschutz zu gewährleisten. Schließen mussten Sie trotzdem.

Was die Hygiene betrifft, wird oft so getan, als habe man alles neu erfinden müssen. Aber das stimmt nicht. Hygiene ist unser täglich Brot. Sie entscheidet mit, ob der Gast sich wohlfühlt. Mit der Pandemie haben sich nur die Dimensionen verändert. Es ist ein erheblicher Aufwand gewesen, die geforderten Anpassungen umzusetzen, auch finanziell.

Klar, vor allem auch deshalb ist es enttäuschend, dass wir wieder schließen mussten. Die Pandemie wird uns auch noch beschäftigen, wenn wir wieder öffnen. Das Reiseverhalten der Gäste wird sich ändern, die Erwartungen an einen gesundheitlich sicheren Urlaub werden höher sein.

 

Es klingelt hinter der Trennscheibe auf der Empfangstheke. „Hotel am Anger, Nagy, guten Tag“, sagt die Geschäftsführerin, die prompt zum Telefon geeilt ist. Doch es ist wieder keine Buchung. Nur ein technischer Dienstleister, der eine Rückfrage hat.

Bisher haben lediglich ein paar Gäste Zimmer für Ostern reserviert, in der Hoffnung, dass sie anreisen dürfen. Fast alle Schlüssel hängen an ihren Haken, jeweils mit Nummern gekennzeichnet – nur die Schlüssel für die Zimmer 4, 17, 34 und 40 fehlen. Ob Geschäftsreisende in den Zimmern wohnen? Kerstin Nagy  verneint. Es sind nur Handwerker im Haus, die Reparaturen ausführen.

Großen Unmut haben die Verzögerungen bei der Auszahlung der Novemberhilfen verursacht. Was geht Betroffenen durch den Kopf, wenn sie hören, dass ein Softwarefehler der Grund war?

Zunächst gilt: Wenn Unternehmen die wirtschaftliche Grundlage wegbricht, dann bleiben ihnen nur die Finanzhilfen. Dass der Staat die Wirtschaftskraft hat, um sie zu bezahlen, ist nicht unbedingt selbstverständlich. Aber der Staat hat die Verantwortung, einen Plan zu entwickeln und diesen Plan in Absprache mit uns umzusetzen.

„Für Softwareprobleme habe ich überhaupt kein Verständnis.“

Für Softwareprobleme habe ich – und da spreche ich wohl für die ganze Branche – überhaupt kein Verständnis. Wir müssen bestimmte Vorgaben schließlich auch innerhalb von bestimmten Fristen umsetzen. Wir erwarten Verlässlichkeit von der Politik, unsere Gäste erwarten sie von uns.

Welche Folgen haben die Verzögerungen?

Die Einzelschicksale sind ex-trem vielfältig. Es gibt Hoteliers und Gastronomen, die sich Geld von Verwandten leihen mussten. Einige rufen beim Dehoga-Landesverband an und weinen, weil sie am Ende sind. Besonders tragisch ist, wenn jemand unmittelbar vor der Krise eine Neueröffnung gewagt hat und jetzt mit dem Rücken zur Wand steht. Die Regierung muss auch diese Leute im Blick haben.

Reichen die Hilfen überhaupt, um den Betroffenen zu helfen?

Man kann die Hilfen nicht pauschal jedem Betrieb überstülpen. Dem einen hilft die Überbrückungshilfe, der andere braucht womöglich noch einen Kredit. Der Staat muss ein Potpourri an Leistungen anbieten. Nur so können alle Einzelfälle abgedeckt werden. Aber ganz entscheidend bleibt eine schnelle Umsetzung der konkreten Hilfen, vor allem um unsere Mitarbeiter zu unterstützen, zu halten und zu motivieren. Was nützt mir das beste Konzept, wenn es Monate dauert, bis es wirkt? Irgendwann gibt auch der größte Optimist auf. Oder im Zweifelsfall wechselt ein Mitarbeiter in eine andere Branche – dabei war der Fachkräftemangel schon vor der Pandemie eines unserer größten Probleme.

 

Eine Wendeltreppe führt hinauf in den Frühstücksraum. Gesellige Unterhaltungen, das Klimpern von Besteck, der Duft von frischem Kaffee, das alles hat es hier lange nicht mehr gegeben. Auch der Frühstücksraum ist im Pausenmodus. Die Heizplatten, auf denen normalerweise Rührei und Bacon brutzeln, sind kalt und leer.

Ein Schild mit der Aufforderung, eineinhalb Meter Abstand zu halten, zeugt vom Betrieb zwischen den Lockdowns. Ebenso die gläsernen Trennwände zwischen den Holztischen. Die kleinen, abgepackten Marmeladen, die Kerstin Nagy eigentlich ein Dorn im Auge sind, weil sie zusätzlichen Müll produzieren. Aber im Sinne des Infektionsschutzes sind sie die bessere Wahl, erklärt die Geschäftsführerin.

Stille auch in den verwinkelten Fluren, kein Kofferrollen ist zu hören, kein Schlüsselklimpern. Vor Zimmer 39, wo oft Familien übernachten, ertönt dieser Tage kein Kinderlachen. Der Einzige, der lächelt, ist der Smiley auf dem Lichtschalter. Er soll mit einem Augenzwinkern daran erinnern, das Licht auszuschalten. Momentan ist er arbeitslos. Das Licht geht gar nicht erst an.

Frau Nagy, wie erleben die Auszubildenden in der Hotellerie und Gastronomie die aktuelle Situation?

Bei uns im Landkreis Harz gibt es mehr als 300 Ausbildungsverträge in der Branche. Das verdeutlicht, welches Potenzial in der Region steckt. Bisher musste noch kein Ausbildungsvertrag wegen der Pandemie gekündigt werden. Die Betriebe investieren sehr viel Mühe und entwickeln Ideen, um die Ausbildung trotz der Umstände so gut wie möglich zu gestalten. Beispielsweise wurden Auszubildende in die Unternehmensführung eingebunden, um umfassendes Wissen über die Betriebsführung zu vermitteln. Die Ausbilder nutzen die Zeit, praktische Fähigkeiten zu schärfen und fördern die Auszubildenden, kreative Ideen selbst zu entwickeln.

Was sind aus Ihrer Sicht realistische Szenarien für die Wiedereröffnung?

Dass wir in vier Wochen wieder mit Volldampf arbeiten, ist nicht zu erwarten. Aber wir brauchen einen Stufenplan – einen Plan, der klar definiert, was ab welcher Inzidenz wieder möglich ist. Das würde Perspektiven aufzeigen und Klarheit schaffen. Die Landesregierung in Schleswig-Holstein hat einen solchen Plan bereits erarbeitet. Ein für alle Bundesländer einheitlicher Stufenplan wäre richtungsweisend und notwendig, um Gästen perspektivisch Urlaubsangebote erstellen zu können und uns den nötigen Mindestvorlauf für die Öffnung zu verschaffen.

„Der Inlandstourismus wird in Zukunft eine größere Rolle spielen.“

Wird sich die Hotellerie wieder von der Krise erholen? Wie lautet Ihre Einschätzung?

Ich bin überzeugt, dass der Inlandstourismus in Deutschland in Zukunft eine größere Rolle spielen wird, das Potenzial der Möglichkeiten ist riesig. Der Gast wird durch die Erfahrungen mit der Pandemie und deren Folgen einen höheren Anspruch an Gesundheit, Hygiene, Sicherheit und Qualität im Urlaub haben, daran werden wir gemessen werden. Und dieses Vertrauen des Gastes wollen wir wieder erreichen. Denn für uns lautet der schönste Abschiedssatz eines Gastes: „Wir kommen gerne wieder.“

 

Zurück in der Rezeption: Ein kleines grünes Kärtchen klebt an der Scheibe auf der Empfangstheke. Ein Gast aus Berlin, der mehrmals im Hotel war, hat die guten Wünsche geschickt. Kerstin Nagy hat das Kärtchen ganz bewusst so platziert, dass alle es sehen. „Am Ende wird alles gut“, steht dort in weißer Schreibschrift.