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Homeschooling Wie Kinder und Eltern verzweifeln

Homeschooling wohl bis Ende Februar - aber Familien sind schon jetzt überfordert.

13.01.2021, 23:01

Magdeburg l Mittwochmittag, gegen 12.30 Uhr, Rauschen in der Freisprechanlage: Kerstin Bialas fährt gerade mit dem Auto ins Büro nach Magdeburg, später als sonst. „Wir kämpfen gerade an allen Fronten“, sagt die Schönebeckerin. Ihren Dienst hat sie nach hinten verschoben, damit ihr Sohn vormittags nicht alleine ist. Und damit sie ihn beim Lernen unterstützen kann.

Die Schulen in Sachsen-Anhalt müssen sich bis Ende Februar auf Distanzunterricht einstellen. Das hatte Bildungsminister Marco Tullner (CDU) am Dienstag verkündet. „Die Infektionszahlen gehen eher hoch als runter“, sagte der Minister. Deshalb sei regulärer Schulbetrieb im Februar aktuell nicht vorstellbar. Betroffene Familien zeigen grundsätzlich Verständnis für die Einschränkungen – gleichzeitig ist klar: Vieles bereitet ihnen Kopfzerbrechen, einiges macht sie regelrecht wütend.

Kerstin Bialas Mann ist ebenfalls berufstätig. Er fängt jetzt früher an als sonst, damit er am Nachmittag wieder früher zu Hause ist. Sohn Tim ist elf Jahre alt und besucht die sechste Klasse des Europagymnasiums in Gommern. Seine Eltern müssen gerade einen Spagat meistern, einen Spagat zwischen Arbeit und Homeschooling.

Und das ist alles andere als einfach, zumal es in Sachen Distanzunterricht dieser Tage nicht rund läuft, berichtet Bialas. Am Dienstag hätte sich ihr Sohn den ganzen Vormittag nicht auf der digitalen Lernplattform einloggen können. „Ich kann doch unmöglich verlangen, dass er über Stunden probiert, sich anzumelden“, empört sich die Mutter. Freunde, Bekannte und Kollegen aus ihrem Umfeld hätten ähnliche Erfahrungen gemacht: „Mich ärgert, dass diese Fälle von den Verantwortlichen als Einzelfälle abgetan werden. Meine Wahrnehmung ist eine andere.“

Zu den geschilderten Problemen erklärt Stefan Thurman, Sprecher des Bildungsministeriums: „Bei der Lernplattform Moodle hat es am Dienstag und Mittwoch keine Störungen gegeben.“ Lediglich die Cloud, die allen Nutzern des Bildungsservers zum Austausch von Daten zur Verfügung steht, sei punktuell nicht erreichbar gewesen.

Gardelegen, der Wohnort von Familie Reinhardt: Mutter Monique, Vater Volker und ihr zehnjähriger Sohn Jannes. Die Eltern sind im Altmark-Klinikum beschäftigt. Er in Vollzeit, sie in Teilzeit. „Dass meine Frau nicht voll arbeitet, ist für uns Glück im Unglück“, sagt Volker Reinhardt. Denn dadurch sei es einfacher, die Betreuung von Jannes und das Homeschooling mit der Arbeit unter einen Hut zu bringen. Er wisse aber von vielen Kollegen, denen es anders geht. „Die Kinder rufen während der Arbeitszeit an, weil sie bei den Schulaufgaben Hilfe brauchen.“

Die Nachricht, dass die Schulen bis Ende Februar geschlossen bleiben sollen, hat den Familienvater erschüttert – obgleich er die Entscheidung in Hinblick auf die Infektionslage nachvollziehen kann. „Aber für die Kinder ist es das Allerwichtigste, in der Schule vor Ort zu sein.“ Denn dort findet ihr Sozialleben statt. „Und die Schule gibt ihrem Alltag Struktur.“

Aufstehen, fertig machen, losgehen: So hat der normale Morgen von Jannes bisher ausgesehen, erzählt Monique Reinhardt. Aktuell ist es für den Zehnjährigen deutlich schwieriger, in den Tag zu starten. Gut sei, dass die Schule – die Lessingschule in Salzwedel – den Alltag der Kinder ein Stück weit vorstrukturiert. Die Aufgaben sind morgens ab 7.30 Uhr abrufbar. Bis 15 Uhr haben die Schülerinnen und Schüler Zeit, die Aufgaben zu bearbeiten.

Trotz allem läuft es nicht reibungslos: „Homeschooling ist einfach nicht dasselbe“, betont Monique Reinhardt. Die Eltern könnten die Lehrer nicht ersetzen. „Ich muss mir den Stoff immer erst anschauen, bevor ich helfen kann. Oft überlege ich: Wie war das noch mal?“ Denn schließlich sei sie schon einige Jahre aus der Schule raus.

Ein weiteres Problem, das die Mutter aus Salzwedel beobachtet: „Ohne die Freunde und die Pausen auf dem Schulhof ist es für die Kinder schwieriger, die Motivation aufzubringen.“ Deshalb gehe sie mit ihrem Sohn manchmal nach draußen an die frische Luft, damit er wieder auftanken kann. An den Tagen, an denen auch sie arbeiten muss, springt die Großmutter bei der Betreuung ein. „Aber diese Option haben eben auch nicht alle Familien.“

Fünf Aufgaben, fünf Kommunikationswege – darüber ärgert sich Anja Tripke, Mutter einer Neuntklässlerin (15) am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Gardelegen. Wie die Altmärkerin berichtet, verschicken die Lehrer die Arbeitsaufgaben auf unterschiedlichen Wegen: über WhatsApp, per E-Mail, über eine Homepage, über Moodle und über „Edupage“, eine Plattform für Englischaufgaben. „Da ist es natürlich schwierig, den Überblick zu behalten.“

Dabei hatte die Schule bereits zum Start ins Schuljahr in einem Konzept festgelegt, dass nach Möglichkeit alle Aufgaben per E-Mail oder über Moodle verschickt werden. „Das hat offenbar nicht funktioniert“, räumt Schulleiterin Steffi Ros auf Nachfrage der Volksstimme ein, und verspricht Besserung.

Übrigens: Eine Vorgabe vom Bildungsministerium, wie die Aufgaben zu den Schülern gelangen sollen, gibt es nicht, erklärt Ministeriumssprecher Stefan Thurmann: „Es ist der Teil der pädagogischen Freiheit, den geeigneten Weg zu wählen.“

Kritik am digitalen Unterrichtsmodell kommt auch aus dem Harz: Nadine Spitzer aus Wernigerode findet es ebenfalls schwierig, parallel zum Job im Homeoffice die Lernbetreuung ihrer Kinder zu übernehmen. Ihre Tochter Sophia geht in die 2. Klasse. Die Anwendung der Lerninhalte fehlt unterm Strich und der Nachholbedarf, gerade bei Grundschülern, steigt, beklagt Spitzer. Zudem sei die Aufgabenfülle terminlich schwer einzutakten. Aktuell sei es bei ihr so, dass sie ihre beruflichen Aufgaben in den Abendstunden abarbeite. Das sei auf Dauer kein Zustand. Zudem kritisiert die Wernigeröderin die ihrer Meinung nach „miserable digitale Infrastruktur“. Es sei immer wieder schwierig, über die digitalen Plattformen auf Lerninhalte zuzugreifen.

Zurück auf die Straße in Richtung Magdeburg: „Ich habe einfach die Sorge, dass die Kinder auf der Strecke bleiben“, sagt Kerstin Bialas. Die Lehrer ihres Sohnes seien ohne Frage äußerst engagiert. Aber den Lehrstoff durchzubekommen, darin sieht sie unter den gegebenen Umständen eine große Herausforderung.

Ob sie und ihre Familie es schaffen, mit dem Homeschooling bis Ende Februar zurechtzukommen? Kerstin Bialas zögert kurz, wieder kurzes Rauschen in der Freisprechanlage, dann sagt sie: „Wir versuchen es. Was sollen wir anderes machen?“