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Schädling Wie der Harzwald stirbt

Der Borkenkäfer wütet im Harz wie Jahrzehnte nicht, Waldbauern und Gemeinden fordern schnelles Handeln - doch der Nationalpark lehnt das ab.

Von Alexander Walter 06.08.2019, 01:01

Wernigerode l Bei 550 Meter über Normalnull steigt Andreas Pusch zwischen Wernigerode und dem Brocken aus seinem weißen Dienst-Skoda. Vor ihm ein hoher Nadelbestand. Als er den Waldweg betritt, knistert es leise unter den Sohlen. Der Blick nach unten zeigt warum: Gleich einem Teppich ist der Weg mit Nadeln übersät – nicht nur hier, sondern vielerorts im Harz, ist das in diesen Tagen so.

Die Nadeln sind Zeugnis eines gewaltigen Sterbens. Noch nie, seit dem Zweiten Weltkrieg, sind in den Wäldern rund um den Brocken derart massiv die Fichten zugrunde gegangen, sagt der Leiter des Nationalparks Harz. Grund ist eine extreme Borkenkäferplage, begünstigt durch klimatische Ausnahme-Bedingungen. Erst warfen Stürme viele Bäume um, dann setzten Hitze und Dürre die Bestände unter Stress. Für Fichten-Borkenkäfer paradiesische Zustände. Nach einer Rekordvermehrung bereits im vergangenen Jahr schwärmen in diesen Wochen erneut Milliarden Tiere zur Eiablage aus. Mit 40 Quadratkilometern sind allein im Nationalpark mehr als 15 Prozent der Fichten bereits abgestorben. Und das Ende sei längst nicht erreicht, sagt Pusch.

Für den Beweis muss der 64-Jährige nicht lange suchen. Er geht einfach auf die nächstbeste Fichte zu. Auf den ersten Blick wirkt der Baum gesund, die Krone ist kräftig grün. Doch Flüsschen aus Harz auf der Rinde verraten, er ist längst verloren. „Auch da sitzen schon Millionen Borkenkäfer drin“, sagt Pusch. Der Forstwirt schabt mit einem Spachtel die Borke auf. Und tatsächlich: Das ist er, ein unscheinbares, schwarzes Insekt. Man mag kaum glauben, dass dieser kleine Käfer solche Schäden anrichten kann.

Die Folgen des Klimawandels verändern nicht nur das Antlitz Harz derzeit rapide. In Sachsen-Anhalt, Thüringen, ja ganz Mitteleuropa sterben hektarweise Fichtenwälder und verdursten die Buchen. Wo einst herbdunkles Grün die Dichter der Romantik vom deutschen Wald schwärmen ließ, recken sich jetzt häufig braun-graue Baumleichen gen Himmel.

Der Bund Deutscher Forstleute hat wegen der Lage gerade den Klimanotstand ausgerufen: Mehr als 100 Millionen Altbäume sind demnach bundesweit bereits abgestorben. Die Schadfläche entspricht mit 100.000 Hektar etwa der der Insel Rügen. Der Nationalpark Harz – ein Gemeinschaftsprojekt der Länder Sachsen-Anhalt und Niedersachsen – ist besonders betroffen. Grund ist anders als im Wirtschaftswald auch eine eigene Philosophie, festgeschrieben im Landes-Nationalparkgesetz. Die Natur soll hier ganz sich selbst überlassen werden, bis auf wenige geregelte Ausnahmen hat sich der Mensch herauszuhalten. Die Beräumung von befallenem Schadholz – das wirksamste Mittel gegen die Käfer – findet daher nur in Randzonen zum Wirtschaftswald statt, um eine Ausbreitung dorthin zu verhindern.

Andreas Pusch ist von dieser Art des Managements überzeugt. „Die Idee ist, dass wir in unseren Wäldern die natürlichen Abläufe zulassen“, sagt er. Die Fichte werde sich verjüngen und mit Laubbäumen neue, robustere Bestände bilden. „Vor dem Hintergrund des Klimawandels brauchen wir solche Experimentierfelder auch, um zu sehen, wie sich unsere einheimischen Baumarten künftig bewähren, glaubt der Nationalparkleiter.

Die Theorie: Nach dem Absterben der Fichten folgen Kräuter und Sträucher, anschließend säen sich neben den ohnehin im Boden liegenden Fichtensamen durch Wind und Vögel auch andere Baumarten aus. Der Nationalpark hilft in tiefen und mittleren Lagen mit der Pflanzung der als besonders robust geltenden Buche nach. Bevor der Mensch in großem Stil abholzte, war sie hier ohnehin die dominierende Baumart, sagt Pusch. 4,3 Millionen Buchen hat der Park seit 2009 inzwischen gepflanzt, 670 000 allein im vergangenen Jahr. Die künstliche Fichtenmonokultur soll so nach 10, 20 Jahren einem neuen, naturnahen und damit stabileren Wald aus Fichten, Eschen, Weiden oder Mooreichen weichen.

Dass das keine Utopie ist, bestätigt Martin Rohde, Experte bei der Nordwestdeutschen Forstwirtschaftlichen Versuchsanstalt in Göttingen. Im Nationalpark Bayerischer Wald etwa hätten sich die Bestände ebenfalls nach flächenhaftem Absterben in den 90er Jahren erfolgreich verjüngt, berichtet er. Außerhalb des Nationalparks Harz wachsen derweil trotzdem Ungeduld und Ärger. Vor allem Besitzer naher Wirtschaftswälder betrachten den sich wie ein Band von Nord nach Süd durch den Harz ziehenden Nationalpark als unerschöpfliches Reservoir für Borkenkäferplagen.

Dass der Park in Grenzstreifen zum Wirtschaftswald Schadholz beräumt, halten sie für unzureichend. Durch sein „Laisser-faire“ ordne der Nationalpark zudem den Umweltschutz dem Naturschutz unter, sagt Waldbesitzerverbands-Chef Franz zu Salm-Salm. Eine riesige CO2-Senke werde ohne Not geopfert.

In Schierke blickt auch Christiane Hoppstock immer häufiger mit Sorgen in Richtung Brocken. Von ihrem Dienstsitz kann sie fast zuschauen, wie die Bäume im Nationalpark absterben, sagt die Ortsbürgermeisterin des Urlaubsorts. „Wir fragen uns, was für ein ‚Danach‘ es geben wird“, sagt sie. Die Geduld von Parkleiter Andreas Pusch mag sie nicht aufbringen. „Es wird zwei, drei Generationen dauern, bis nach dem Absterben etwas nachwächst, so viel Zeit haben wir nicht.“ Die Ortsbürgermeisterin sorgt sich vor allem um Hoteliers und Pensionsbesitzer. Immerhin 220.000 Übernachtungen jährlich zählt das 550-Einwohner-Dorf. „Daran hängen Existenzen“, sagt Hoppstock. „Es gibt Hotelbesitzer, die haben mir gesagt, sie verkaufen alles, wenn das so weitergeht.“

Die Bürgermeisterin sieht gar die Akzeptanz des Nationalparks infrage gestellt. Bislang habe man sich mit dem Projekt arrangiert. Jetzt aber werde er immer mehr zum Fremdkörper. „Die Landesregierung muss sich mindestens ins Auto setzen und sich die Lage hier bei uns anschauen“, fordert sie.

Auch der Harzer Tourismusverband schaut mit Bedenken auf die Entwicklung. „Wir machen uns schon Gedanken darüber, dass die Besucherzahlen einbrechen könnten“, sagt Geschäftsführerin Carola Schmidt. Ein solcher Einbruch könnte sich für das Tourismusland Sachsen-Anhalt zu einem Schlag ins Kontor entwickeln: Rund zehn Millionen Übernachtungen gab es laut Verband zuletzt jährlich im Harz – das entspricht einem Anteil von 40 Prozent an der gesamten Tourismuswirtschaft des Landes.

Politisch einmischen will sich der Verband aber nicht. Er setzt stattdessen auf Aufklärung. „Wir haben ein hohes Stammkundenpotenzial, da ist es wichtig, zu erklären, was im Wald passiert, um die Gäste zu halten“, sagt Schmidt.

Die Politik haben die Hilferufe von Waldbauern und Harzgemeinden dennoch erreicht. Die CDU-Landtagsfraktion fordert neben umfangreichen Hilfen für Waldbauern auch eine Änderung des Nationalparkgesetzes. Um Kahlflächen, Erosion und letztlich Verkarstung zu verhindern, müsse Schadholz auch im Nationalpark beräumt werden, sagt etwa Politiker Guido Heuer.

Andreas Pusch hält solche Forderungen für ein „Ablenkungsmanöver“. Der Borkenkäfer habe bundesweit längst viel zu viele Bestände durchsetzt. „Das Kind ist in den Brunnen gefallen“, sagt er. Ein Eingreifen im Nationalpark würde daran überhaupt nichts mehr ändern.

Den Nationalparkleiter treiben eher andere Sorgen um, vor allem die Frage: Welcher Wald wird künftig in Sachsen-Anhalt wachsen, wenn sich der Klimawandel fortsetzen sollte. Wie sich die Fichte künftig entwickelt, könne niemand sagen. Gleiches gelte für viele Laubbäume. Gerade gepflanzte Setzlinge hat der Park wegen Trockenheit teils schon wieder verloren.

Mediterrane Baumarten kommen wegen der Winterfröste im Harz ebenfalls nicht infrage. „Ein Patentrezept für künftige Arten hat derzeit niemand“, sagt auch Forstexperte Rohde. Pusch sagt: Vor den Dürrejahren 2018 und 2019 hätte er gewettet, die Buche wird sich den Harz zurückerobern. „Jetzt aber wage ich da wirklich keine Prognose mehr.“

Die niedersächsischen Waldbesitzer werben unterdessen für eine aktive Aufforstung auch im Nationalpark Harz – mit klimaresistenteren Arten. „Es wird zu lange dauern, bis sich wieder natürlich ein Wald entwickelt“, sagte der Verbandspräsident Norbert Leben.