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Schulen & Corona Tullner: "Es gibt kein Patentrezept"

Im Interview reagiert Bildungsminister Marco Tullner auf Kritik der Grünen, spricht über Digitalisierung und mobile Luftfilter in Schulen.

12.11.2020, 23:01

Volksstimme: Herr Tullner, Ihr grüner Koalitionspartner hat Ihnen jüngst in ziemlicher Deutlichkeit zum Vorwurf gemacht, den Sommer nicht für die Vorbereitung des Corona-Schuljahres genutzt zu haben. Haben die Grünen recht?

Marco Tullner: Es ist das gute Recht jedes politischen Akteurs, sich zu äußern. Diese Positionierung war aber schon ein Einschnitt für mich. Sie war die Aufkündigung des politischen Corona-Konsenses in der Koalition, ein Anfall von Vorwahlkampf. Psychologisch hat das sicher nicht geholfen. So etwas verunsichert die Leute und sorgt für Anspannung in den Schulen. Vor allem aber war die Kritik zu großen Teilen frei von jeglicher Ahnung, für mich war sie ein Tiefpunkt der Zusammenarbeit in dieser Kenia-Koalition. Das hatte ich von den Grünen nicht erwartet.

Haben Sie sich von den sinkenden Corona-Zahlen vor dem Sommer blenden lassen?

Nein. Wir sind im Sommer eben nicht in die Entspannungsphase gefallen. Man darf die Corona-Krise auch nicht in Schuljahren denken. Im März waren alle noch vom Coronavirus überrascht. Die Schulen wurden ohne Differenzierung geschlossen, dann haben wir sie zunächst für die Abschlussklassen und später im Wechselmodell für andere Klassen wieder geöffnet. Wir waren dabei von Anfang an innerhalb der Kultusministerkonferenz (KMK) in ständiger Abstimmung. Was ich sagen will: Wir alle sind in einem Lernprozess, neue Entwicklungen nehmen wir fortlaufend auf.

Was ist im Sommer konkret passiert, um die Schulen fit für eine neue Corona-Welle zu machen?

Wir haben etwa den Rahmenplan geschrieben und Maßnahmen erarbeitet, um den Schulbetrieb zu ermöglichen. Den Plan haben wir übrigens nicht im luftleeren Raum festgelegt, wir haben uns innerhalb der KMK dazu eng abgestimmt. Der Lehrerhauptpersonalrat in Sachsen-Anhalt hat dem Plan zugestimmt. Gerade haben wir ihn fortgeschrieben.

Grundsätzlich treffen wir im Land auf ganz unterschiedliche Schulen und Gebäude. Dem trägt der Plan Rechnung. Dafür gibt es die Kontaktmaßnahmen, wie die Maskenpflicht auf dem Gelände oder Lüftungsvorgaben. Gibt es Verdachtsfälle, greift in enger Abstimmung mit den Gesundheitsämtern in den Kreisen ein Maßnahmeplan.

Dennoch: Haben Sie die Schulen genug auf erneute Schließungen vorbereitet? Auch aus dem Umfeld des Landesinstituts für Schulqualität kam zuletzt Kritik, trotz Corona-Krise habe es im Sommer keinen Ausbau dringend benötigter Serverkapazitäten für Online-Unterricht gegeben ...

Ich bin dankbar dafür, dass wir mit diesem Märchen aufräumen können. Es ist viel passiert. Zum Server, richtig ist: Wir hatten im April zeitweise einen Ausfall unserer damaligen Servermaschinen. In der Folge wurde die Serverdienstleistung zügig neu ausgeschrieben, derzeit ziehen wir auf Server der Telekom um. Online-Unterricht an Schulen in Sachsen-Anhalt wird damit nicht länger durch Engpässe der Hardware begrenzt.

Darüber hinaus wurde im Sommer eine Vielzahl neuer Unterstützungprogramme erworben, die Lehrkräften neues digitales Lehrmaterial oder Werkzeuge zur Verfügung stellt. Mit „mundo.schule“ haben wir eine Mediathek, die alle Bundesländer gemeinsam zur Verfügung stellen. Ein Beleg, dass die Angebote funktionieren ist die Lernapp „Anton“ für Grundschulen. 200 Schullizenzen waren in kurzer Zeit fast vollständig verbraucht, so dass wir nachordern werden.

Warum können ein halbes Jahr nach Beginn der Corona-Krise immer noch nur gut 120 der 900 Schulen mit der Vollversion der Lernsoftware „Moodle“ arbeiten – nur 30 mehr als im März?

Sachsen-Anhalt hat sich vor Jahren für „Moodle“ als favorisierte Lernsoftware entschieden. Einige Schulen arbeiten mit der Vollversion, fast 10.000 Lehrkräfte mit einer einfacheren Variante, die aber auch Videokonferenzen, Kursräume, Messengerdienste und weitere Funktionen bietet. Ich will damit sagen, die Zahl 120 ist wenig aussagekräftig. Wir sind besser als der Ruf.

Ihr Resümee lautet also, die Schulen sind digital in der Mehrheit bereits fit?

Die Digitalisierung von Schule ist ein Prozess auf vielen Ebenen, angefangen beim Breitband-Anschluss über Endgeräte bis zu Schulungen von Lehrkräften. Vor der Corona-Krise hatten wir da zwar eine Entwicklung, die war aber nicht sehr dynamisch, da muss man ehrlich sein. Das aber hat sich grundlegend geändert. Corona hat dafür gesorgt, dass digitaler Unterricht nicht mehr nur als Feuerwehr fungiert, sondern zunehmend seinen Platz im Schulalltag einnimmt. Alles in allem sind wir da in Sachsen-Anhalt in diesem halben Jahr in Dimensionen vorangekommen.

Können Sie Fortschritte konkret machen?

Wir haben aktuell 10.000 „Moodle“-Nutzer, das ist ein Zuwachs von 3000 im Vergleich zum Frühling. Unser eigenes Cloud-Angebot nutzen heute 11.336 Lehrkräfte, auch das ist eine Zunahme um 4500. Die Zahl der Dienst-E-Mail-Accounts ist auf 13.149 gestiegen, das sind 6500 mehr als im Frühling.

Wie ist der Stand der Umsetzung beim Bundes-Sofortprogramm für Schüler-Laptops und beim Digitalpakt?

Im Fall des Bundes-Sofortprogramms stehen uns jeweils 15 Millionen Euro für Schüler-Laptops, IT-Administratoren an Schulen sowie für Endgeräte für Lehrer zur Verfügung. Bei den bereits verfügbaren Mitteln für Schüler-Laptops hat ein Teil der Kommunen als Schulträger entschieden, die Geräte selbst bestellen zu wollen. Aber: Von 15.000 Geräten, die wir als Land zentral bestellt haben, sind bereits 12.000 ausgeliefert.

Die Kommunen, die selbst bestellen, rechnen damit, dass sie bis Jahresende beliefert sind, so dass wir dann Vollzug melden können. Mit Blick auf Endgeräte für Lehrer sind wir schon jetzt in Verhandlungen mit den kommunalen Spitzenverbänden gestartet, obwohl die Bund-Länder-Gespräche über den Start des Programms noch laufen. Wir wollen unsere Lehrer so ab Jahresbeginn 2021 ebenfalls zeitnah mit Laptops ausrüsten.

Mit Blick auf den mit 130 Millionen Euro deutlich umfassenderen Digitalpakt mussten Sie Schulträger zuletzt ermuntern, Anträge abzugeben ...

Das hat damit zu tun, dass die Schulen anders als beim Bundes-Sofortprogramm Förder-Anträge mit Konzepten einreichen müssen. Dafür brauchen sie Vorlauf. Stand jetzt liegen uns aber auch hier bereits 217 Anträge mit einem Volumen von 35 Millionen Euro vor. Bewilligt wurden bereits Projkete für mehr als 24 Millionen Euro.

Die Grünen kritisieren nicht nur die schleppende Digitalisierung, sie fordern auch mobile Luftfilteranlagen für Schulen, in denen nicht richtig gelüftet werden kann. Warum lehnen Sie das ab?

Richtig ist: Wir haben keinen Überblick über den Zustand der Schulgebäude, das ist Sache der Schulträger. Uns haben aber auch noch keine Klagen über Probleme erreicht. Im Übrigen lehne ich Lüftungsgeräte nicht ab. Ich sage nur: Wir haben uns in der KMK Experten zum Thema geholt. Die sagen ganz klar: Stoß- und Querlüften ist das, was am effektivsten hilft. Was Luftfilter angeht, gibt es Stimmen, die sagen: Die Geräte helfen. Es gibt aber auch Experten, die warnen sogar, dass die Geräte gegenteilige Effekte haben könnten. Angesichts solchen Stimmenwirrwarrs bin ich immer wieder voller Bewunderung für politisch eindeutige Forderungen.

Andere Bundesländer fördern die Geräte, Bayern etwa ...

Ja, vier Bundesländer haben Förderprogramme aufgelegt. Da gibt es interessanterweise aber auch Korrelationen zu in den Ländern ansässigen Herstellern.

Lehrer haben berichtet, sie bekämen Elternbeschwerden, weil Kinder frieren. Für Sie kein Argument?

Wenn die Wissenschaft uns sagt: Lüften ist die beste Maßnahme, dann nehme ich das zur Kenntnis. Die Experten sagen auch: Bei kurzem Stoßlüften im Unterricht sinkt die Temperatur um lediglich zwei bis drei Grad. Da sollte niemand erfrieren. Dass manche Schüler an Fensterplätzen auch mal frieren, will ich nicht bestreiten, aber es kommt auch auf das richtige Lüften an. Stoßlüften heißt eben nicht, die Fenster die ganze Stunde auf Kipp zu stellen. Dann wird es tatsächlich kalt.

Wichtig ist aber auch: Wenn Schulträger der Ansicht sind, dass sie Luftfilter brauchen, wollen wir ihnen helfen. Hier haben wir aktuell den Blick der Kommunen für ein Bundesprogramm für bereits bestehende Lüftungsanlagen geschärft. Parallel sind wir mit der EU in Gesprächen, ob diese Fördermöglichkeiten schaffen kann. Ein eigenes Landesförderprogramm kann ich mir angesichts der Erkenntnislage aktuell aber nicht vorstellen.

Der Hygieneplan sieht eingeschränkten Betrieb mit Mindestabstand erst vor, wenn ein Viertel der Schüler einer Schule in Quarantäne ist. Viele Lehrer im Land sind älter als 50, zählen zur Risikogruppe. Warum setzen Sie die Kollegen der Infektionsgefahr aus, die von vollen Klassenräumen ausgeht?

Unsere Lehrer leisten in diesen Monaten Dienst in Potenzen und stehen enorm unter Druck, genauso wie Verkäufer, Pflegekräfte oder die Gesundheitsämter. Das muss man auch einmal anerkennen. Wir als Politiker sind hin- und hergerissen zwischen den Interessen der Kollegen und dem Ziel, die Schulen zu öffnen. Hier gibt es kein Patentrezept, es gilt, Kompromisse zu finden. Aber hier schlägt eben auch die Stunde der Politik.

Studien haben uns gezeigt, wie unersetzbar Präsenzunterricht ist. Kinder und Jugendliche brauchen Strukturen und ihr gewohntes Umfeld. Lernen ist ein zutiefst sozialer Prozess. Deshalb haben wir als Ziel formuliert, den Schulbetrieb, soweit es geht, aufrechtzuerhalten. Zugleich wissen wir, dass wir damit ein Risiko eingehen. Dafür haben wir die Hygieneregeln formuliert und zuletzt angepasst.

Reicht das? Lehrer fordern, den regionalen Inzidenzwert von 50 Neuerkrankungen je 100.000 Einwohner in einer Woche als Kriterium für den Wechsel zum eingeschränkten Betrieb zu nehmen ...

Der Inzidenzwert einer Region ist ein willkürlich festgelegter Wert, er hat mit dem Geschehen in einer konkreten Schule oft gar nichts zu tun. In Frankfurt/Main sind die Schulen bei einer Inzidenz von 280 offen. Im Landkreis Gütersloh schoss die Inzidenz im Frühling wegen eines lokalen Ausbruchs im Schlachthof Tönnies nach oben. Wir tun, was möglich ist. Zusätzlich zu den Hygieneauflagen haben wir eine Million Mund-Nasen-Schutzmasken und 230.000 FFP2-Masken sowie Desinfektionsmittel an die Schulen verteilt. Wissenschaftler melden uns zudem immer wieder zurück: Schulen sind nach allem, was man weiß, eben nicht die Herde für große Ausbruchsgeschehen.

Können Sie den Abschlussklassen 2021 heute die Zusage geben, dass Unterricht und Prüfungen nicht gefährdet sind?

Die Garantie, die ich dem Jahrgang 2020 gegeben habe, gebe ich auch dem Jahrgang 2021. Der Prozess dorthin ist ein anderer, wir sind aber in der Kultusministerkonferenz dabei, das genaue Prozedere zu diskutieren. Was ich schon sagen kann: Wir wollen einen zentralen Termin für die Prüfungen, dank des späten Ferienbeginns stehen wir in diesem Jahr nicht so unter Zeitdruck. Im Vergleich zu anderen Bundesländern sind wir da diesmal im Glück.